Trennen die digitalen Kontaktmittel die Menschen oder bringen sie sie näher? Die Studien der türkisch-amerikanische Wissenschafterin Zeynep Tufekci legen nahe: Die Gesellschaft vereinsamt, Social Media sind aber nicht der Grund dafür.
Die türkisch-amerikanische Wissenschafterin Zeynep Tufekci ist Expertin für Bürgerbewegungen und Social Media. Während des Arabischen Frühlings und der Unruhen in Istanbul redete sie mit den Beteiligten über Kommunikation. Eine ihrer Gesprächspartnerinnen, eine junge Ägypterin aus wohlhabendem Haus, erzählte Tufekci, wie sie dazu gekommen ist, an den Protesten am Tahrir-Platz teilzunehmen.
«Ich habe alle meine Freunde auf Twitter getroffen. Meine Familie und mein Umfeld weigern sich, über Politik zu sprechen.» So habe sie immer mehr politische Gespräche online geführt, einen Freundeskreis aufgebaut und an den Demonstrationen teilgenommen – etwas, was sie ohne ihre Twitter-Kontakte nie getan hätte.
Starke und schwache Bindungen
Durch solche Beispiele kommt Tufekci zum Schluss, dass die verbreitete Theorie über die Art der sozialen Bindungen, die über soziale Netzwerke entstehen, fehlerhaft sein müsse. Diese Theorie besagt, dass schwache Beziehungen, sogenannte weak ties, mit Facebook und ähnlichen Plattformen gut gepflegt werden können: Wer einen Restauranttipp in Paris braucht, findet unter seinen Facebook-Kontakten häufig jemanden, der weiterhelfen kann.
Starke Bindungen (strong ties), so die verbreitete Annahme, entstünden immer analog und würden durch Social Media nicht gestärkt: Wer sich vom Lebenspartner trennt und für ein paar Wochen ein Zimmer braucht, sucht eher das persönliche Gespräch als die Vernetzung im Internet. Da Menschen zunehmend Zeit für ihre Profile auf sozialen Netzwerken aufwenden, würden sie mehr in schwache statt starker Bindungen investieren und letztere so vernachlässigen.
Ständig verbunden und einsam
Diese Annahme wurde vor allem durch die amerikanische Wissenschafterin Sherry Turkle verbreitet, deren einflussreiches Buch «Alone Together» erzählt, «warum wir mehr von Technologie und weniger voneinander erwarten» und so einsamer würden, obwohl wir ständig verbunden sind.
In den Interviews, die Turkle führt, erzählen Jugendliche vom Druck, der entsteht, weil sie ständig Nachrichten beantworten müssen, und von der Entfremdung, die sie in ihren Familien und ihrem Freundeskreis erleben, weil alle ständig über ihre Geräte mit Abwesenden verbunden sind, statt mit den Anwesenden zu kommunizieren.
Social Media machten uns deshalb einsam, weil sie uns erlauben, die Intensität einer Beziehung zu kontrollieren. Menschen, deren Präsenz uns langweilt oder belastet, können wir ausblenden und ignorieren – was uns letztlich daran hindert, belastbare Beziehungen aufzubauen, in denen auch Unangenehmes Platz hat. Unser soziales Netzwerk bietet so nur noch Raum für Oberflächliches und lässt uns gerade dann im Stich, wenn wir uns darauf verlassen müssen.
«Schwach» nicht gegen «stark»
Dieser Beurteilung widerspricht Tufekci in ihren neuesten Studien. Es gebe keine Belege dafür, dass schwache Bindungen eine Bedrohung für starke darstellen und Social Media die Ursache für eine zunehmende Entfremdung seien. Die Forscherin entwickelt vielmehr eine andere Erklärung, die ihre Daten stützen. «Das Internet macht uns nicht einsamer, sondern hat verschiedene Effekte auf die Grösse, Zusammensetzung und Struktur unserer sozialen Netzwerke. Das ist ein Grund, weshalb die neue Technologie so viel Unwohlsein verursacht.»
Nicht die Technologie, Dummkopf
Tufekcis Daten legen nahe, dass die zunehmende Vereinsamung in der Gesellschaft beobachtbar ist, aber auf andere Faktoren als auf die Kommunikationstechnologie zurückgeführt werden muss. Ausschlaggebend sind ihrer Meinung nach die Arbeitsbedingungen und -wege, die Zunahme von Doppelverdienerfamilien sowie die Isolation von Jugendlichen, die immer weniger Möglichkeiten haben, sich zu versammeln.
Gesellschaftliche Veränderungen führen dazu, dass viele Menschen ihre sozialen Beziehungen nur noch via Smartphone pflegen können: Die arbeitende Mutter muss während der Betreuung ihrer Kinder mit dem Büro verbunden sein, um am Arbeitsplatz keinen schlechten Eindruck zu machen, in der S-Bahn brauchen die Pendelnden Facebook, um die aufgewendete Zeit sozial nutzen zu können. Das Bedürfnis, auf gemeinsamen Spaziergängen lange persönliche Gespräche führen zu können, teilen viele Menschen: Aber nur wenige können es sich zeitlich und finanziell leisten, das zu tun.
Beziehungspflege durch SMS
Die Studien von Tufekci und ihren Mitarbeitenden legen einen zweiten Schluss nahe: Es gibt Menschen, die durch den Austausch von kurzen Nachrichten und Bildern ihre Beziehungen gut pflegen können. Tufekci bezeichnet sie als «cybersozial». Ihnen macht es nichts aus, auf direkten Kontakt verzichten zu müssen, sie fühlen sich anderen auch schriftlich nahe und können Gefühle in Social Media wahrnehmen und einordnen.
Andere Menschen können das nicht. Wenn Freundschaften zunehmend auf einem digitalen Austausch beruhen, verändert sich das Interaktionsmuster: Die Cyberasozialen erfahren vieles nicht mehr, was wichtig wäre, um Freundschaften zu erhalten.
«Kommunikationstechnologie wirkt weder entmenschlichend noch isolierend, wenn sie für soziale Verbindungen verwendet wird. Das Internet ist nicht eine Welt voller körperloser und oberflächlicher Beziehungen, es ist eine Technologie, die soziale Verbindungen zwischen echten Menschen medialisiert und strukturiert», lautet Tufekcis Fazit.