Saisonal
Der herzige «Mungg» als Ragout auf dem Teller? Wir habens ausprobiert

Die Wildsaison läuft, traditionelle Restaurants tischen auch Raritäten wie Murmeltier auf. Wir haben drei Mal davon gekostet.

Christian Berzins
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Keystone

Die bohrende Frage, warum so viele Menschen das Filet eines milchgetränkten, rehäugigen Kalbs genussvoll verschlingen, aber irritiert vor einem Ragout aus fettem Murmeltier zurückschrecken, ist einfach zu beantworten. Der Mungg ist der Sympathieträger der Nation, nichts ersehnen wir auf einer Bergwanderung mehr als die Begegnung mit dem netten Nager, der seine Bekannten bei Sonnenaufgang mit einem Nasenstüber begrüsst.

In unseren kleinen Freund hinein projizieren wir menschliche Fähigkeiten, gar tiefe Bewunderung verursacht sein Warnpfiff. «Munggi die Gwundernase», der Held eines liebevoll gestalteten Bildbands, entfacht zusammen mit Bruder Stunggi seit 1963 die Murmeltierliebe vieler Schweizer Kinder.

zvg

Eben erschienen ist «Gian und Giachem und das Munggamaitli Madlaina», eine Geschichte, die einer Dreijährigen das Herz zerreissen muss.

Dass bei den Murmeli Sitten wie in der blutrünstigen Serie «Game of Thrones» herrschen, wird da wie dort verschwiegen. Inzucht ist gang und gäbe, und übernehmen die Männchen die Führung einer fremden Kolonie, vertreiben sie das dortige dominante Männchen rücksichtslos und machen mit dessen Nachwuchs kurzen Prozess. Davon weiss Munggi nichts. Er träumt vom Fliegen, plaudert mit den Gämsen und schafft es, dem Fuchs zu entfliehen. Vom bösen Onkel und den Jägern erzählt ihm Mama nichts. Und schon passierts: Kopfschuss. Fell weg. Eine Woche Beize. Drei Stunden im Topf.

Wer Murmeltier essen will, muss weit fahren

Nun liegen vor uns drei Stücke Murmeltier-Pfeffer in einer verführerisch dunklen Sauce auf einem weissen Teller. Kaum eine Messerspitze davon probiert, ist klar: Dafür hat sich die Reise in den «Adler» ins wilde Muotatal gelohnt.

«Murmeltier-Pfeffer mit Rosmarinpolenta»: Serviert im «Adler», Muotathal.

«Murmeltier-Pfeffer mit Rosmarinpolenta»: Serviert im «Adler», Muotathal.

Eveline Beerkircher

Das Fleisch ist nicht zart, aber wunderbar bissig, es lässt sich sehr leicht von den Knochen lösen. Der Geschmack ist kräftig, eher nach Gämse denn Hase riechend – tranig, wie das Gerücht, hingegen überhaupt nicht.

«Wie beim Hechtessen», sagt das Gegenüber und lächelt, erneut mit den Fingern ein Knöchelchen aus dem Mund ziehend. Fischesser, die mit der Zunge den Mund nach Gräten abzusuchen verstehen, sind tatsächlich im Vorteil. Doch die Nerven kostenden Miniknochen halten zusammen, was es noch zu halten gibt. Wird das Fleisch zu lange gekocht, zerfällt alles.

Wichtig ist auch, dass Murmeltiere «schön geschossen» sind. Doch den kleinen Kopf zu treffen, ist ziemlich schwer. Aber das Fleisch in den Schultern und den Oberschenkeln sollte nicht verletzt oder durch Knochensplitter wegen eines Rückschusses verunstaltet sein. Und keine Angst: Die Quoten sind streng limitiert. Einen Strich durch die Rechnung des «Alder»-Wirtes kann der Schnee machen: Schneit es zu früh, verkriechen sich die Murmeltiere in ihre Löcher.

Fast neun Monate des Jahres verschläft unser Mungg, was ihn uns fleissigen Schweizern noch viel sympathischer macht. Kaum wach, gilt es für ihn zu fressen, was runter mag: Wurzeln, Blätter, Blüten, Kräuter und Gräser mag er sehr. 1200 Gramm Körperfett reichen, damit die drei bis sieben Kilo schweren Tiere dösend durch den Winter kommen. Dieses Fett müssen Dani Jann und seine Tochter Romana im «Adler» äusserst sorgfältig wegschneiden.

12 bis 15 Tiere erhält Jann von den Jägern, das reicht, um eine Wildsaison lang als Vorspeise «Murmeltier-Pfeffer mit Rosmarinpolenta» für 19 Franken 50 anzubieten. Aus einem Munggen gibt es ein Dutzend Vorspeise-Portionen.

Alles bereit, um den Murmeltier-Pfeffer zu kochen.

Alles bereit, um den Murmeltier-Pfeffer zu kochen.

Eveline Beerkircher

Aufgepumpte Bodybuilder: Hüfte und Schulter top, Taille flop

Obwohl die Tiere nur schwer zu bekommen sind, gibt es unter den Wirten und Metzgern im Muotathal kein Wettbieten, den meisten ist die Verarbeitung zu aufwendig. Jann zieht den Tieren das Fell ab, danach gilt es neben den Fettpolstern vor allem eine Drüse bei den Schultern sorgfältig wegzuschneiden. Die Tiere haben gute Schulter- und Nackenpartien, am Rücken aber, der bei anderen Wildtieren so wertvoll ist, findet sich fast kein Fleisch. Jann erklärt:

Murmeltiere sind wie ein aufgepumpter Bodybuilder: Da ist auch viel rund um die Beine und die Schultern, um die Taille aber nichts.

Während er sie ausbeinelt, wird er zum Muotathaler Wetterschmöcker, beginnt je nach Fettgehalt zu orakeln, wie streng der Winter wird.

Jann bezahlt den Jägern 20 bis 30 Franken pro Murmeltier, gibt ihnen aber das Fett zurück, das später für Salben verwendet wird. Dafür lassen sie ihm bisweilen die Leber und die Nieren – eine Delikatesse, die Stammgäste vorgesetzt erhalten. Besonders treue Gäste sollen im «Adler» gar Hirschhoden erhalten. Der grandiose Speisemeister Klaus Leuenberger hat in Ernen einst Murmeltierhoden in sein Gourmet-Menü integriert. Heute ist in seinem Shop immerhin Murmeltier-Gehacktes im Glas erhältlich.

Ist der Mungg einmal zerschnitten, kommt im «Adler» jedes Tier einzeln in einen Kessel und wird eingebeizt. Eine Woche liegt es nun mit gutem Grund im Topf: Obwohl Murmeltiere auf der Schlachtbank fast gleich aussehen, können sie ein unterschiedliches Alter haben. «Der eine ist einer Stunde weich, der andere in drei», so Jann.

CH Media

Den Duft aus dem Muotatal noch im Kopf, steigen wir ein paar Tage später in Bivio auf 1800 Metern über Meer nach dreieinhalb Stunden Fahrt aus dem Postauto. Übertrieben? Da und dort wird Murmeltier angeboten, aber auf der Speisekarte findet es sich nun einmal nur in wenigen Restaurants. Wir betreten das Hotel Post jedenfalls gwundrig wie Munggi eine Höhle.

Nur Neulinge fragen sich, warum alsbald eine Schale mit einer Zitrone auf dem Tisch gestellt wird. Hotelbesitzerin Martina Lanz meint lachend:

Bestellt der Gast Murmeltier, erklären wir ihm, worauf er sich einlässt.

Marmotta con Polenta hat hier schon ihre Grossmutter angeboten – immer Ragout. Die 46 Franken pro Portion sind mehr als der Preis für einen Rehpfeffer. Doch aus einem Murmeltier kann Koch Adrian Wyder nicht mehr als zweieinhalb (grosszügige!) Portionen zubereiten.

«Marmotta con Polenta»: In der «Post» Bivio als grosszügiger Hauptgang serviert.

«Marmotta con Polenta»: In der «Post» Bivio als grosszügiger Hauptgang serviert.

bez

Rund 40 Murmeltiere hat der Wildliebhaber diesen Herbst erhalten. Obwohl jeder Bündner Jäger acht Murmeltiere schiessen darf und er für Wiesen, wo die Lochbohrer zur Plage werden, ein Zusatzkontingent einfordern kann, sind am Ende der Herbstsaison in der «Post» alle weg.

Wer hier einkehrt, weiss warum. Wyder ist ein Wild-Meister. Nachdem das Fett weggeschnitten ist, brät er die Murmeltierstücke dreimal an und giesst sie mit heissem Wasser ab, um noch mehr Fett wegzubekommen. Danach lässt Wyder das Fleisch drei Stunden leise köcheln. Wyder erklärt:

Schwierig ist es nicht, aber aufwendig. Wer einmal Mungg mit dem Trangeschmack gegessen hat, isst das nie wieder.

So viel Murmeltiergeschmack wie in der «Post» gibt es nirgendwo. Im Unterschied zum Pfeffer ist die Sauce weniger dick, und man sieht die Knöchelchen viel besser.

Wie heikel die Zubereitung ist, zeigt sich am Abend im Nachbarlokal. Das Fleisch ist zwar gleich geschnitten wie in der «Post», aber es ist viel weniger dran. Und wo etwas dran ist, lässt es sich nur schwer vom Knochen trennen, ist dazu zäh. Das wäre alles nicht so schlimm, würde das Fleisch nicht leicht tranig riechen. Wir würden es wohl als interessante Eigenartigkeit oder Liebhaberei abtun, mitsamt der dicken Sauce essen, wüssten wir nicht, wie es sein könnte, wenn sehr sorgfältig damit gearbeitet wird.

Vor dem Lokal steht ein geschnitztes Holzmurmeli. Wir tätscheln ihm den Kopf, ist uns doch nichts lieber als unser kleiner Freund.

Hier gibt es zurzeit Murmeltier (anderswo nachfragen):
- Post, Bivio
- Adler, Muotathal
- Crusch Alba, Zernez.