Essay
Das Wahlrecht kam im Schneckentempo – das lag nicht nur an den Männern

«Isch das iez s Nötigscht?», fragten sich 1971 die Schweizer Männer, als sie über das Stimmrecht der Frauen abzustimmen ­hatten. Selbst viele Frauen meinten, dass das nicht viel ändern ­würde. Zum Glück hatten sie unrecht.

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Simon Maurer

Gerade hat der Duden das generische Maskulin abgeschafft. Frauen sind nun nicht mehr mitgemeint, wenn jemand von Po­litikern schreibt. Frauen sind Politikerinnen. Vor 50 Jahren gab es in der Schweiz keine Politikerinnen, nicht im Duden und nicht im Bundeshaus. Vor 50 Jahren war die Schweiz nur für Schweizer eine Demokratie. Schweizerinnen waren im politischen Prozess nicht vorgesehen.

Das hört sich an wie ein Betriebsunfall der Geschichte. Ist es aber nicht. Dass ich hier sitze und schreibe, dass mein Mann derweil unsere Kinder betreut und mein Lohn nicht auf sein, sondern auf mein Konto fliesst, dass drei Bundesrätinnen in Bern regieren, es einen Vaterschaftsurlaub und ein gleichberechtigtes Eherecht gibt, das ist alles keine Selbstverständlichkeit. Vor 50 Jahren gab es das Wenigste davon. Dass es möglich wurde, dafür haben Frauen ein Jahrhundert lang gekämpft. Und sie tun es noch heute.

Ein schmerzvolles Kapitel, das erzählt gehört

Der lange und steinige Weg der politischen Gleichberechtigung ist mehr als ein Nebenschauplatz der Schweizer Geschichte. Es ist ein schmerzvolles Kapitel, das erzählt gehört, auf diesen Seiten, in Büchern, an Schulen, Universitäten, Mittagstischen.

Denn «beim Ausschluss der Frauen von den politischen Rechten handelt es sich nicht um ein Zuspätkommen aus Vergesslichkeit, sondern um eine Entscheidung, wiederholt getroffen und bekräftigt, von den Schweizer Männern», schreibt die Basler Historikerin Caroline Arni. Den Zeitgeist verdrängt und ihre Privilegien geschützt hätten die Männer.

Meine Grossmutter hatte keine Zeit für Politik

Mein Vater war bei der Abstimmung volljährig. Natürlich habe er ein Ja eingeworfen, wie sein Vater und seine Brüder, sagt er heute. Die Einzige in der Familie, welche die Abstimmung unnötig fand, sei meine Grossmutter gewesen. Ausgerechnet sie also, Mutter von vier Söhnen, gelernte Sekretärin, Wirtsfrau, die immer gearbeitet und lieber gejasst als gebetet hat. Diese stolze Frau empfand ihr eigenes Wahlrecht als unnötig? Wie gern würde ich sie heute fragen, ob es sie nicht gestört hat, dass die Männer in ihrer Beiz Politik machten, während sie ihnen zuhören und das Bier servieren musste.

Empfand sie kein Unrecht darüber, dass sie kein eigenes Bankkonto eröffnen konnte, dass mein Grossvater, als Lokführer wohl mehr fort als zu Hause, rechtlich das Oberhaupt der Familie war? Sie hätte wohl laut gelacht, meine Hand genommen und gesagt, dass ich nicht viel davon wisse, wie das damals war, nach dem Krieg. Mit vier Buben, der vielen Arbeit, im Haus, im Laden, der Beiz. Arbeit, die nie auf­hören wollte. Dass sie schlicht keine Zeit für solche Gedanken gehabt habe.

Zum Glück hatten andere Frauen diese Zeit. Frauen wie Meta von Salis: die erste pro­movierte Historikerin, die schon 1887 schrieb, dass das Wahlrecht ein Menschenrecht sei.

Meta von Salis Historikerin und Vorkämpferin für Frauenrechte

Meta von Salis Historikerin und Vorkämpferin für Frauenrechte

CH Media

Oder die unermüdliche Vorkämpferin Marie Goegg-Poichoulin, die 1899 in dem glücklichen Irrtum starb, dass die Gleichberechtigung der Frauen in der Schweiz unmittelbar bevorstehe. Hätte sie gewusst, dass es noch zwei Generationen dauern sollte! «Eine Schnecke kriecht schneller, als die Gleichberechtigung der Schweiz vorwärtskommt!», proklamierten die Frauen schon im Jahr 1928.

Die Frau als dienendes und dankendes Wesen

Zurück zu meiner Grossmutter. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie der Ansicht war, dass es das wahre Wesen der Frau sei, «zu dienen, zu danken, nicht zu herrschen und nicht zu fordern», wie es Frauenstimmrechtsgegnerinnen 1969 behaupteten. Ich glaube, es hat ihr auch keine Sorgen bereitet, dass «Frauen unfreiwillig in die Niederungen der Politik gezerrt» würden, wie es auf Plakaten 1971 geschrieben stand.

Ich habe meine Grossmutter auch nicht als ein «sanftes und emotional instabiles Wesen» in Erinnerung, das dringend «häuslichen Schutzes bedarf». Aus heutiger Sicht kann man über diese Argumentation aus dem bürgerlichen Lager gegen das Frauenstimmrecht fast lachen, aber eben nur fast. Denn die Erzählung der «unfähigen Frau» sitzt bis heute tief.

Und heute, bin ich wirklich gleichberechtigt, fühle mich gleich fähig? Ich versuch’s zu beweisen mit Worten und Taten, bis es für uns Frauen nichts mehr zu beweisen gibt. Denn wir sind nicht nur mitgemeint, wir waren schon immer da.