Analyse
Darf der Staat eine Coronavirus-Durchseuchungsstrategie fahren?

Warum nicht, wenn es doch die billigste Art ist, Herdenimmunität zu erreichen und die Pandemie zu besiegen. Aber die Strategie ist hochriskant und verteilt das Risiko ungleich.

christoph bopp
christoph bopp
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Das Gesundheitswesen zu entlasten, war die Strategie der Schweizer Regierung. Aber dürfte der Staat auch auf eine Durchseuchungsstrategie setzen?

Das Gesundheitswesen zu entlasten, war die Strategie der Schweizer Regierung. Aber dürfte der Staat auch auf eine Durchseuchungsstrategie setzen?

KEYSTONE/AP/Chris Carlson

Die Antwort ist: Nein. Weil es der Idee des Staates widerspricht. Es gibt diverse Möglichkeiten, die Notwendigkeit oder wenigstens die Wünschbarkeit des Staates zu begründen. Eine, der wahrscheinlich alle zustimmen werden – auch der Philosoph Robert Nozick, der bestenfalls einer Art «Minimalstaat» die Existenzberechtigung zuspricht, –, ist die, dass der Staat das Recht auf Leben des Einzelnen schützen soll.

Betrachten wir jetzt den Staat als moralisches Subjekt, als eine Instanz, die rechenschaftspflichtig ist gegenüber ihren Mitgliedern. Wie lassen sich Handlungen moralisch rechtfertigen? Die gängige Ethik gliedert sich in zwei Schulen. Die Pflichtethik sagt, dass es Handlungen gibt, die man einfach tun muss. Und der Utilitarismus, der verlangt, dass eine bestimmte Handlung getan wird, weil sie den grössten Nutzen bringt für möglichst viele.

Ist der Staat konfrontiert mit einer Bedrohung, die er ernst nehmen muss, deren Ausmass aber noch nicht recht absehbar ist, wird er der Maximalbedrohung entgegentreten müssen. Er wird, weil dies seiner Idee entspricht, das Leben seiner Mitglieder möglichst zu schützen versuchen.

Dass die Massnahmen, die er ergreift, andernorts Schäden verursachen, nimmt er in Kauf. Weniger wichtig ist, wie man diese Massnahmen schliesslich begründet. Es kann durchaus «flatten the curve» sein, um das Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen. Das schaffte der Lockdown, immerhin hat das Virus die Gesundheitssysteme von Industriestaaten ernsthaft herausgefordert.

Nun wird über die Schäden diskutiert. Die sind nicht erwünscht, das ist klar. Weniger klar ist, worum es eigentlich geht. Man sollte jetzt nicht (mehr) mit «Menschenleben» argumentieren. Die Massnahmen haben das Leben geschützt, ihre Lockerung soll es keineswegs frei geben. Was kostet ein Menschenleben? ist ebenso eine unangemessene Frage wie das Argument abstrus ist, auch die Lockdown-Massnahmen kosteten Menschenleben, wenn sich Menschen, deren Existenz ruiniert ist, umbringen würden.

Eine Gesellschaft, die sich selbst als «zivilisiert» ansieht, sollte anerkennen, dass der Staat moralisch verpflichtet ist, gewisse Dinge einfach zu tun, ohne nach deren Nutzen zu fragen. Aber der Staat ist auch verpflichtet, den grösstmöglichen Nutzen für die grösstmögliche Zahl seiner Mitglieder zu schaffen.

Er darf zu gegebener Zeit die Lockdown-Massnahmen lockern, um grössere und allenfalls irreparable Schäden zu vermeiden. Also doch Aufrechnen? Was darf aufgerechnet werden? Nicht das Leben, dieses Opfer darf der Staat nicht fordern. Auch der Soldat muss im Ernstfall sein Leben nur riskieren.

Womit der Staat aber rechnen darf, ist die Verteilung des Risikos. In diese Position hat ihn schliesslich der technische Fortschritt gebracht. Er darf – und muss – seinen Mitgliedern Risiken zumuten. Und das tut er – oder tun wir – ja auch dauernd. Lärm wird zugemutet, Fluglärm inklusive. Wer in der Nähe eines AKW wohnt – so wie wir fast alle –, muss ein gewisses Risiko tragen. Der Schutz von Wasser, Boden und Landschaft vor allerlei Beeinträchtigung ist Dauerthema unserer Politik.

Und so darf der Staat auch unseren älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern ein gewisses Risiko zumuten. Das ist nicht Diskriminierung, sondern dem utilitaristischen Kalkül geschuldet. Die Zumutung ist begrenzt und nachvollziehbar.