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Jetzt liegt die R-Zahl wieder über 1. Aber was bedeutet das? Fest steht jedenfalls: Es gibt zu wenig Informationen von den Kantonen. Die sechs wichtigsten Fragen und Antworten.
Seit Ende Mai liegt die Reproduktionszahl R in der Schweiz wieder über 1. Müssen wir uns jetzt Sorgen machen über eine erneute Ausbreitung des Corona-Virus?
Die Angabe auf der Website der Science Task Force ist eine Schätzung. Geschätzt wird der Median der letzten drei relevanten Tage. Die Datenbasis sind die bestätigten gemeldeten Fälle. Es dauert rund 11 Tage nach der Infektion, bis ein Fall bestätigt ist. Deshalb zeigt der aktuelle Wert erst den Stand vom 7. Juni 2020.
Gilt die Angabe nicht mehr: Wenn R grösser als 1 ist, verbreitet sich die Epidemie, wenn R kleiner als 1 ist, erlöscht sie irgendwann?
Theoretisch schon. Aber die Anzahl neuer Fälle ist inzwischen so klein, dass die Schätzungen um den Wert 1 herum oszillieren. Die aktuelle Zahl von 1,17 schwankt ja zwischen 0,898 und 1,48, die 1 ist im Konfidenzintervall von 95 Prozent immer enthalten.
Weiss man etwas über die Gründe, warum die Reproduktionszahl wieder steigt?
Matthias Egger, Leiter der nationalen Task-Force zur Unterstützung des Bundesrats während der Coronapandemie, sagt: «Wir verstehen nicht, warum die Fallzahlen zunehmen. Wir wissen nicht, was der Anstieg bedeutet. Wir kennen die Übertragungsketten und das Umfeld der Ansteckungen nicht. Wir plädieren deshalb dafür, dass die kantonalen Contact-Tracing-Center ein standardisiertes Datenblatt ausfüllen und die Daten zentral registriert werden. Momentan ist das nicht der Fall und das BAG hat keinen Zugang auf die Daten.»
Ist die Reproduktionszahl R deshalb weniger wichtig geworden?
Wenn die Fallzahlen so tief sind, ist der Unsicherheitsbereich ziemlich gross. Dazu handelt es sich ja um einen Durchschnittswert. Denn nicht alle Virusträger verbreiten das Virus gleich. So wird eine andere Zahl, der sogenannte Dispersionsfaktor k, wichtiger. Er gibt an, wie viele von den Infizierten wirklich auch Virus-Verbreiter, sogenannte «Spreader» sind.
Was heisst das für die Verbreitung?
Bei einer Influenza-Epidemie beobachtet man einen k-Wert nahe 1. Das heisst, jeder Infizierte ist auch ein Anstecker. Bei Covid-19 liegt der Wert tiefer, bei etwa 0,5. Nur jeder zweite Virusträger ist ein Verbreiter. Dafür gibt es sogenannte Superspreading-Events wie in jener Freikirche in Südkorea, wo ein Virusträger Hunderte angesteckt hat.
Das sollte es eigentlich ermöglichen, den Verlauf der Epidemie besser zu kontrollieren?
Genau. Wenn man weiss, wo sich die Leute angesteckt haben und bei wem, dann kann man diese Leute isolieren und die Verbreitung des Virus bremsen. Dazu müsste man aber die Umstände eines lokalen Ausbruchs präzis kennen. Einem Ausbruch liesse eigentlich auch anders nachspüren: «Es wäre gut, wenn man die Viren mittels Gensequenzierung verfolgen könnte», sagt Matthias Egger, Leiter der Task Force. «Die Viren verändern sich immer leicht und damit wüssten wir, welche Fälle mit welchen zusammenhängen. Die Viren sollten sofort in einem Labor sequenziert werden, damit wir die Epidemie in Echtzeit verfolgen können.»