Konzentrationslager Auschwitz
Auschwitz-Überlebender Gábor Hirsch: «Flucht? Wir wussten, dass wir keine Chance haben»

Nur dank seiner Liegestütze kam Gábor Hirsch an jenem Herbsttag wieder aus dem Vorraum der Gaskammer.

Samuel Schumacher
Drucken
Ein Bild eines Kriegsfotografen der Roten Armee vom 27. Januar 1945 zeigt die Kinder im KZ Auschwitz-Birkenau, unter ihnen wahrscheinlich Gábor Hirsch, Fünfter von rechts. «Ganz hundertprozentig sicher bin ich mir nicht», sagt Hirsch. Es ist eine der offenen Fragen, die ihn bis heute umtreiben.

Ein Bild eines Kriegsfotografen der Roten Armee vom 27. Januar 1945 zeigt die Kinder im KZ Auschwitz-Birkenau, unter ihnen wahrscheinlich Gábor Hirsch, Fünfter von rechts. «Ganz hundertprozentig sicher bin ich mir nicht», sagt Hirsch. Es ist eine der offenen Fragen, die ihn bis heute umtreiben.

Alamy

Gábor Hirsch stand nackt im Vorraum des Krematoriums V in Auschwitz, wenige Meter von jenen Gaskammern entfernt, in denen die Nazis über 1,1 Millionen Menschen ermordet haben. Es war der 10. Oktober 1944, Gábor war 15 Jahre alt und gerade durch die Selektion gefallen. «Arbeitsunfähig», hatten die Aufseher gesagt, ab ins Gas. Im Vorraum des Krematoriums standen hohe Offiziere. Sie befahlen Gábor, er solle Liegestütze machen. «Doch noch arbeitsfähig», sagte einer. Gábor griff sich ein paar Kleider und entkam dem sicheren Tod – im allerletzten Moment.

Zwei Wochen zuvor fiel er schon einmal durch eine Selektion. Der Arzt Josef Mengele, der «Todesengel von Auschwitz», liess im Konzentrationslager eine Messlatte anderthalb Meter über dem Boden anbringen. Alle 3000 Kinder im Lager mussten sie passieren. Wer unter der Latte durchpasste, schickte Mengele direkt in die Gaskammer. Auch Gábor Hirsch. Doch Mengeles Assistent holte ihn zusammen mit 21 anderen wieder aus der Baracke der Todgeweihten. Warum genau, das weiss er bis heute nicht.

Das war am 27. September, Jom Kippur, ein jüdischer Feiertag. Gábor Hirsch, heute 90 und zu Hause in einem Reihenhäuschen im Zürcher Oberland, erinnert sich genau an diese Details. Dem brutalen Schicksal, das ihm widerfahren ist, begegnet er mit Akribie. Über seine sieben Monate im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau spricht er in rhythmischer Sprache, ohne Emotionen, immer wieder kneift er die Augen zusammen. Dieses Wochenende wird er mit seinen Söhnen wieder nach Auschwitz reisen und an der 75-Jahr-Feier der Befreiung teilnehmen.

Das letzte Geschenk der Mutter

Menschen wie ihn, die die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten am eigenen Leib erfahren haben, gibt es nicht mehr viele. Der Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen betreut noch rund 80 Holocaust-Überlebende hierzulande. Von Jahr zu Jahr werden es weniger – und von Jahr zu Jahr wird die Chance kleiner, dass Gábor Hirsch die Antworten auf seine Fragen doch noch findet.

Gábor Hirsch Auschwitz-Überlebender

Gábor Hirsch Auschwitz-Überlebender

zvg

Die Frage nach seiner Mutter zum Beispiel. Hirsch wuchs als Einzelkind in der ungarischen Kleinstadt Békéscsaba auf. Sorglos und gut sei die Kindheit gewesen. Von den antijüdischen Aktionen habe er nicht viel mitgekriegt. An den Judenstern kann er sich erinnern, den er ab dem 6. April 1944 tragen musste. Und natürlich an jenen Sommertag, als er mit seiner Mutter und 90 anderen Menschen in einen Viehwaggon getrieben und nach Auschwitz deportiert wurde. «Es war heiss, wir kriegten kaum Luft.» Am Boden standen zwei Kübel: einer mit Wasser, einer für die Notdurft. «Wir hatten keine Ahnung, wohin wir gebracht wurden», sagt Gábor Hirsch.

In Auschwitz trieben die Nazis die eingepferchten Menschen aus dem Waggon. 80 Prozent der ungarischen Juden wurden direkt vergast, nur 20 Prozent als Zwangsarbeiter am Leben gelassen. Gábor, damals 14, wurde von seiner Mutter getrennt. Zweimal hat er sie danach noch gesehen. An das letzte Treffen mit ihr erinnert er sich genau:

Mit einem Arbeitskommando musste ich Grasziegel stechen, kurz nachdem alle Zigeuner in Auschwitz vergast worden waren. Ich hatte eine Portion Brot bei mir. Und als ich meine Mutter traf, wollte ich ihr das Brot geben. Sie aber war stärker und hat mir ihre Portion geschenkt.

Ein Stück Menschlichkeit inmitten des Unmenschlichen.

Erst 1998 hat Gábor Hirsch erfahren, dass seine Mutter kurz darauf ins KZ Stutthof verlegt wurde und dort gestorben ist. Und bis heute kann er sich nicht an jene ersten Momente erinnern, die er in Auschwitz an ihrer Seite verbracht hatte. Wenn er am Montag nach Auschwitz reist, wird er vielleicht jemanden finden, der vielleicht etwas weiss. Und dieses Vielleicht war Grund genug für ihn, immer wieder an den Ort seiner Peinigung zurückzukehren.

Die Lüge von den Bäckereien

Noch heute erinnert er sich an manche Dinge, als wären sie erst gestern passiert. An das Essen zum Beispiel: Morgens gab es einen halben Liter dunkle Flüssigkeit, Ersatzkaffe oder Tee, leicht gesüsst. Am Mittag gedörrtes Gemüse, vielleicht mit einem Stück Kartoffel oder Sauerrübe. «Wir teilten uns zu dritt oder zu fünft ein Geschirr und mussten aufpassen, dass niemand mehr als seinen Anteil ass. Bei der ersten Runde gabs für jeden drei Bisse, dann zwei, dann einen», erzählt Hirsch.

Dieses Bild zeigt vermutlich ebenfalls Gábor Hirsch. Sicher ist er sich nicht.

Dieses Bild zeigt vermutlich ebenfalls Gábor Hirsch. Sicher ist er sich nicht.

zvg

Er erinnert sich an die Fluchtpläne, die er mit einem Freund schmiedete. «Tagträume waren das. Wir wussten, dass wir keine Chance hatten. Der Stacheldraht um uns herum stand unter Hochstrom. Immer wieder gab es Leute, die auf den Draht gestiegen sind, weil sie es nicht mehr ausgehalten haben.»

Hoffnung hatte Hirsch nicht viel. Aber Suizid, das war nie ein Thema. Vielleicht auch deshalb nicht, weil die Älteren in den KZ-Baracken den Kindern die wahren Umstände verschleierten. Die Verbrennungsöfen mit den Kaminen, aus denen manchmal die Flammen und der Rauch stiegen, das seien Bäckereien, hatten die Alten erzählt.

«Jeder hat sein eigenes Schicksal»

Als die Nazis das Lager am 18. Januar 1945 räumten und Tausende Häftlinge auf die Todesmärsche schickten, blieb Gábor Hirsch zurück. Und als die SS-Schergen Tage später zurückkamen, um die Spuren des grössten Massenmordes der Geschichte zu verwischen, da hat er sich vor ihnen unter einem Strohsack versteckt. Am 27. Januar wurde er von der Roten Armee befreit. Er wog noch 27 Kilogramm. «Ich konnte mich kaum noch bewegen.»

Gábor Hirsch war einer von 7000 Menschen, die aus dem KZ Auschwitz-Birkenau befreit worden sind. Monate später wurde er mit seinem Vater wiedervereint, der von den Nazis 1944 zum militärischen Arbeitsdienst eingezogen worden war. Er hat mit ihm nie über seine Zeit in Auschwitz gesprochen. «Jeder hat sein eigenes Schicksal», sagt Hirsch. Psychologische Hilfe hat er nie erhalten. Den Hass auf die Deutschen hat er irgendwann abgelegt. 1956 kam er während des Ungarn-Aufstandes in die Schweiz, machte an der ETH seinen Ingenieur-Abschluss und lernte Deutsch.

Anfänglich wollte ich nichts mit der Sprache zu tun haben. Aber Sie sehen, das hat sich geändert

, sagt Hirsch und lächelt – das einzige Mal an diesem Wintermorgen.

Dass sich die Dinge ändern, dass nie mehr wird, was damals war, dafür hat er ein Leben lang gekämpft. Er sagt: «Auschwitz zeigt, wozu Ausgrenzung – welcher Art auch immer – im äussersten Fall führen kann. Das müssen wir vermeiden.» Auschwitz, sagt Gábor Hirsch, sei ein Teil von ihm, auch wenn die Tätowierung auf seinem linken Unterarm – «B-14781» – langsam verblasst. Dass es die Erinnerung an diesen Ort nie tun wird, das wünscht er sich mehr als alles andere.