Der Komponist Mieczisław Weinberg blieb lange unbekannt. Zu Unrecht, findet Linus Roth – und baut ihn in sein Aargauer Programm.
Die Plakate fallen auf: Ein asketisches, jugendlich markantes Gesicht, das linke Auge blickt durch die innere Wölbung einer Geige. Es ist die berühmte Dancla aus dem Haus Stradivari in Cremona. Der Mann auf dem Plakat ist Linus Roth, Violinvirtuose aus dem süddeutschen Ravensburg und nun im Kanton Aargau zu hören. Vor dem Kammerkonzert Ende Februar hat er Zeit für ein Gespräch. Das Plakatgesicht gehört in Wirklichkeit einem lebhaften, charmanten Musiker. Durchaus auch ernsthaft, was seine Leidenschaft und seinen Beruf angeht, aber offen und mit Humor.
Für Linus Roth ist es ein Comeback, er hat hier bereits 2003 konzertiert, eine Rückkehr in Raten: Mit Mitgliedern des Argovia Philharmonic spielte er Franz Schuberts F-Dur-Oktett für Klarinette, Fagott, Horn und Streicher von 1824.
Als erster Geiger ist er hier nicht wie sonst der Solist, sondern eher der Konzertmeister. Eine seltene und schöne Art, so Roth, vor einem Konzert einige Orchesterleute im kleineren Rahmen kennen zu lernen. Kammermusik mache er ja meist mit anderen Solisten zusammen, und für die grossen Violinkonzerte kommt er als Gast, es gibt eine Probe und dann das Konzert. Und gespielt hat er sie alle, Bruch und Beethoven, Brahms und Schostakowitsch.
Nun sind es sogar deren zwei: Im 4. Abokonzert in Aarau und Baden spielt Roth Mendelssohns Violinkonzert, und dazu auch gleich noch dasjenige von Mieczisław Weinberg. Wein-wer? Diese Frage wäre bis vor wenigen Jahren normal gewesen. Heute ist der 1919 in Warschau geborene und 1996 in Moskau gestorbene Komponist eine anerkannte Grösse. Daran hat auch Linus Roth massgeblichen Anteil: Er hat mit dem Dirigenten Thomas Sanderling die internationale Weinberg-Gesellschaft gegründet, die sich dem Schaffen des lange zu Unrecht vergessenen Meisters verschrieben hat.
Weinberg sei laut Roth nicht etwa nur Student Schostakowitschs gewesen, wie oft behauptet werde. Die beiden hätten vielmehr auf Augenhöhe verkehrt und der zwölf Jahre ältere Schostakowitsch habe grosse Stücke auf den Jüngeren gehalten. Roth erwähnt die Auftritte der beiden am Klavier zu vier Händen. Spannend sei, wo es Parallelen in ihrem Werk gebe und wo Unterschiede.
Roth räumt ein, zwei Violinkonzerte aufs Mal seien etwas viel, aber Sorgen scheint das dem sportlichen Geiger nicht zu machen. Die Frage, ob immer Weinberg nicht eintönig werde, amüsiert Roth. Er spiele zwar das Stück im ersten Halbjahr 2022 über zehnmal, aber es sei doch immer wieder etwas anderes. Mit verschiedenen Dirigenten und Orchestern und immer neuem Publikum. Dessen Reaktionen und die «Vibes» im Saal seien nämlich wichtig für das Gelingen eines Konzerts. Zudem spiele er ja auch andere Werke, so zwischen den Aargauer Auftritten Korngolds Violinkonzert in Buenos Aires.
Auf der Reise dorthin wäre ein anderes Stradivari-Instrument vor 60 Jahren fast im Rio de la Plata verloren gegangen, das Mara-Cello von Christian Poltéra, dem Solisten im 3. Argovia-Sinfoniekonzert. Linus Roth kenne ihn gut, vor Jahren haben sie im Trio den Schweizer Jugendmusikpreis gewonnen. Am Klavier dabei war damals ein gewisser Philippe Jordan, heute weltweit gefeierter Dirigent und musikalischer Chef der Wiener Staatsoper. Vielleicht gelingt es ja, auch diesen Dritten im Bunde einmal in die Alte Reithalle zu locken?
Für Künstler sei die Coronapandemie sehr schwierig gewesen, aber er habe dank seiner Augsburger Professur wenigstens keine Existenzsorgen gehabt. Dennoch habe er sich stets offen und kritisch zu den Covid-Massnahmen geäussert, und tue dies noch immer. Mit Sorge beobachte er drohende Denk- und Diskussionsverbote, die jene mit einer anderen Meinung rasch in eine rechte Ecke stellen würden. Dabei wäre doch der Dialog umso wichtiger, findet der Künstler.
Linus Roth ist nicht nur Geiger, sondern auch Manager, der zwei eigene Festivals leitet. Eines davon in seiner zweiten Heimat Ibiza, wo er auch auf dem Meer anzutreffen ist. Boot fährt er zudem auf dem Starnberger See nahe seinem Wohnort München. Zurzeit mache er auch den Flugschein – ein Künstler also zu Land, zu Wasser und in der Luft.
Auch kurz vor dem Konzert ist Roth keine Nervosität anzumerken. Zaungäste möchte er allerdings bei der Probe lieber nicht dabeihaben, Köche liessen sich nur ungern in die Küche blicken. Als das Gespräch auf den Ukraine-Krieg kommt, ruft definitiv die Pflicht. Der Krieg erfüllt ihn mit Sorge. Wenn nur auch hier die völkerverbindende Musik helfen könnte: Laut Linus Roth ist sie die direkteste Sprache zwischen den Menschen und braucht keine Übersetzung.
Starke Stücke (4. Abo Konzert): Am 10.3. und 13.3. in Aarau, am 11.3. in Baden