Der bekannte Schweizer Theatermacher Milo Rau war angetreten, Schillers «Wilhelm Tell» in die Gegenwart zu holen. In seine Inszenierung fliesst die ganze faschistische Vergangenheit und Gegenwart der Schweiz, auch die Diskussion um die Bührle-Sammlung: Zu viel für einen Abend.
Der Schweizer Nationalheld Wilhelm Tell ist eine gigantische Projektionsfläche. Palästinensische Terroristen haben sich in ihm gespiegelt, Soldaten sind mit ihm in den Krieg gezogen, unterdrückte Völker haben sich einen wie ihn herbeigesehnt, und sogar Hitler verguckte sich in diesen virilen Typen – bis er merkte, dass man ihm nur die Rolle des bösen Österreichers wirklich zutraute.
Die Widersprüchlichkeit des Tell, der seinen Landsleuten mutig und zupackend zur Hilfe eilt und sich als einfacher, einfältiger Landbub ohne politische Agenda am liebsten aus allem fein raushält, hat den Schweizer Theatermacher Milo Rau für eine Inszenierung auf der Zürcher Pfauen-Bühne inspiriert. Wer ist der Kerl, der in einem Programmheft aus der legendären antifaschistischen «Tell»-Inszenierung von 1939 mit Heinrich Gretler Primarschüler zu Sätzen anregte wie: «Wenn man den heutigen Tell aufführen wollte, müsste Gessler in einem Panzerwagen durch die Hohle Gasse fahren, und Tell würde ihn mit einem Maschinengewehr erschiessen.» Sätze, die in Kriegszeiten einem kalte Schauer über den Rücken jagen. Weil sie auch von der gerne übersehenen Brutalität erzählen, die im «Tell» genauso steckt wie hehre Werte.
Bühnenbildner Anton Lukas verpasst dem «Tell» ein folkloristisches, von der Oskar-Wälterlin-Inszenierung inspiriertes Gewand anno 1939, mit herziger nachgebauter Tellskapelle, Baum und Felsen im Hintergrund und wabernden Nebelschwaden. Davor sitzen die Tells von heute: Acht Laiendarsteller, die Rau und sein Team aus 400 Bewerbern gecastet hatte und fünf Profischauspielerinnen und -schauspieler. Eine davon, Karin Pfammatter, stammt aus dem Wallis. Mit ihrer Herkunft bürgt sie für die Authentizität im Tell, setzt der Bergromantik ihrer deutschen Kolleginnen Maja Beckmann etwas entgegen, für die alle Berge das Wallis sind. «Wissen Sie, was das ist, die Schattenlinie»?, fragt Pfammatter in die Runde. Und spricht von dem Stein gewordenen Schnee in den Bergen, auf den nie Licht fällt und der manchmal Jahrzehnte bis Jahrhunderte alt sei. Schnee von gestern, schmutziger Schnee.
Als hätte der im belgischen Gent arbeitende Milo Rau beim Heimspiel in der Schweiz umfassend aufräumen wollen, schmilzt er in dieser Inszenierung tonnenweise alten Schnee ein, um ihn als braunen Matsch von den Bergen herunter aufs Publikum zu lenken. Rau treibt die Handlung des Schillerschen Original-«Tell» mit Tonaufnahmen der 1930er-Jahren-Inszenierung voran, während die Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne biografische Anknüpfungspunkte an den Tell suchen. Ein Jäger, der sich mit dem Armbrust-Helden beruflich verwandt fühlt, nimmt auf der Bühne ein Tier aus. Sarah Brunner, erste Füsilier-Offizierin der Schweiz, war in Syrien im Einsatz und teilt mit Tell die Erfahrung, in einem historischen Ereignis ungewollt zu einer Schlüsselfigur geworden zu sein. Schauspielerin Maya Alban-Zapata zerhackt den Burgvogt von Unterwalden als Vergewaltigungsopfer und Gattin Baumgartens mit einer Axt gleich selbst. Neben ihrem Job als Schauspielerin kämpft sie gegen sexuelle Gewalt. Die Szene könnte aus einem B-Movie stammen oder einer Fantasie des verstorbenen Regisseurs Christoph Schlingensief. Dessen Geist ist in Raus Inszenierung allgegenwärtig. 2001 hatte Schlingensief auf der Pfauen-Bühne mit dem Schauspieler Sebastian Rudolph einen Skandal-«Hamlet» mit Neonazi-Aussteigern inszeniert. Nazis spielten die berühmte Stück-im-Stück-Szene, die dem Königsmörder den eigenen Mord vor Augen führten.
2022 lässt Rau Sebastian Rudolph in SS-Montur durch die Tür der nachgebauten Tells-Kapelle stolpern, dabei ein herumliegendes Monet-Gemälde aus der Bührle-Sammlung zertreten und sich über ein «Hängt den Bührle an ein Schnürle»-Plakat ärgern, das ihn an Nazi-Methoden erinnert - deutlicher hätte er dem benachbarten Kunsthaus nicht ans Bein pinkeln können. Drinnen schaut sich Rudolph in einem Kinosaal, der wie der Pfauensaal aussieht, dann eine Schweizer «Tell»-Verfilmung aus dem Jahr 1960 an, in der sich Rudolph beim Anblick Tells mit viel Eros in die Rolle Gesslers imaginiert. Die Message ist deutlich: Die geschichtsblinden Schweizer kriegen ihren Faschismus von ihrem eigenen Nationalstück vorgeführt. Aber sie kapieren es nicht. Weswegen es wenigen Augenblicke später zur Musik von «Züri brännt» zur Revolte kommt.
Die rekrutierten Volks-Tellen wirken dabei wie Statisten, die auf Abruf ihre Sätzli sagen. Als der Eritreer Hermon Habtemariam, der in der Schweiz Opfer von Polizeigewalt wurde und in seiner Heimat einen viel schlimmeren Gessler erlebt hat, einmal auf seine Flucht angesprochen wird, winkt er ab. Eine lange und traurige Geschichte sei das. Zu lange für diesen Abend. Der Satz steht symptomatisch für das, was hier passiert: Die Dimension der aufgegriffenen Themen steht in keinem Verhältnis zu ihrer Repräsentation. Einzig mit der ehemaligen Bührle-Zwangsarbeiterin Irma Frei, der wesentlich mehr Zeit eingeräumt wird, ist Rau ein Coup gelungen. Wie sie in einem hellen Blazer, aufgeräumt und mit sich selbst versöhnt, hinter einem Rednerpult das Publikum über Verbrechen aufklärt, die die Öffentlichkeit bislang noch nicht kannte, hat eine Kraft, der man sich nicht entziehen kann. Als junge Frau war sie Opfer der Schweizer Vormundschaftsbehörden. Sie musste gratis in einer der Firmen des Kunstsammlers und Waffenhändlers Bührle schuften. Doch sie wirft keinen Stein ins Publikum. Was fehlt, um die Widersprüchlichkeit der Schweiz als Ganzes im Stück abzubilden, wären neben all diesen sympathischen Aktivisten, die ein linkes Theaterpublikum kaum verschrecken, aber auch unbequemere Figuren wie der Freiheitstrychler, der sich aus dem Projekt zurückgezogen hatte.
Nur, was ist das jetzt alles? Ein Kommentar auf Schlingensiefs Skandal-Hamlet von 2001? Eine Beschäftigung mit der Rezeption? Ein Porträt der heutigen Schweiz? Alle drei Ebenen sind klug miteinander verknüpft, aber Tiefe findet man kaum. Als gegen Ende alle Beteiligten den Schweizerpsalm in einer Gospelversion singen, ist der Tell als Held unbrauchbar geworden. Zu feige, zu systemkonform, sei er. Und wohl auch etwas überfordert von der Agenda, die Milo Rau verfolgt hat. Hätte der Regisseur wirklich den ganzen braunen Matsch von Schillers Drama wegschaufeln wollen, er hätte sich aus der Landi ein paar Schneeräumgeräte besorgen müssen. Knapp zwei Stunden reichen dafür nicht aus.
«Wilhelm Tell» nach Friedrich Schiller. Regie: Milo Rau. Schauspielhaus Zürich, Pfauen-Bühne.