Literatur
Lana Bastašić schrieb ein verrücktes Roadmovie ins dunkle Herz Bosniens. Eine Begegnung in Zürich

Sie hat 2020 den Literaturpreis der Europäischen Union erhalten. Lana Bastašić erzählt über zwei Kindheitsfreundinnen. In Zürich lebt sie derzeit als Writer in Residence. Am Samstag liest sie am Online-Festival «Tage der südosteuropäischen Literatur».

Valeria Heintges
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Schriftstellerin Lana Bastašić, Writer in Residence am Literaturhaus Zürich, auf der Zürcher Ratshausbrücke.

Schriftstellerin Lana Bastašić, Writer in Residence am Literaturhaus Zürich, auf der Zürcher Ratshausbrücke.

Severin Bigler

Lana Bastašićs Romandebut «Fang den Hasen», für das sie den Europäischen Literaturpreis gewann, führt zwei Freundinnen von Mostar nach Wien und in Rückblenden immer wieder in die Geschichte ihrer schwierigen Freundschaft. Sara, die sich in Dublin ein neues Leben aufgebaut hat, erhält nach zwölf Jahren Funkstille einen Hilferuf ihrer Kindheitsfreundin Lejla, die sie bittet, sie zu ihrem Bruder zu fahren.

Kennen Sie Lejla?

Lana Bastašić: Alles begann mit ihr. Aber Teil ihres Charakters ist, dass sie nicht zu fassen, nicht zu fangen ist. Sie ist eine dieser Figuren, die schwer zu beschreiben sind, aber wenn man sie trifft, beeindrucken sie sehr.

Es könnte also sein, dass Sie eine Frau sehen und plötzlich denken: Das könnte Lejla sein?

Ja, oder: Das könnte eine Lejla sein. Alle Schreibschulen sagen, man müsse alles über seine Figuren wissen. Ich wollte das Gegenteil: zeigen, dass man niemals einen Menschen wirklich kennen oder verstehen kann. Man kann es versuchen. Aber nicht einmal einem Freund gelingt das, auch nicht einem Autor. Das war die Herausforderung mit Lejla: Sie unfassbar zu machen.

Lana Bastašić wurde 1986 im kroatischen Zagreb geboren, zog im Alter von vier Jahren mit ihren serbischen Eltern ins bosnische Banja Luka. Später studierte sie Anglistik und Cultural Studies, lebte dann sieben Jahre in Barcelona, wo sie eine katalanische Zeitschrift mitbegründete. Heute wohnt sie in Belgrad und Zagreb. Seit Anfang Februar und noch bis Ende Juni weilt Bastašić auf Einladung von Literaturhaus und PWG-Stiftung als writer in residence in Zürich.

Lana Bastašić in der Bibliothek des Zürcher Literaturhauses.

Lana Bastašić in der Bibliothek des Zürcher Literaturhauses.

Severin Bigler

Die Erzählerin ist nicht Lejla, sondern die erfolgreiche Schriftstellerin Sara.

Lejlas Geschichte ist nicht meine Geschichte. Es wäre eine unpassende Aneignung für mich als Serbin, aus der Sicht eines muslimischen Mädchens in Bosnien zu erzählen.

In der Freundschaft scheint Lejla die Dominante, der Sara fast willenlos folgt.

Wenn man Saras Erzählung glaubt, ist sie Opfer. Aber als Serbin in Banja Luka ist sie privilegiert. Sie kann wählen, was sie erzählt und was nicht. Ich wollte diesen Effekt von Vladimir Nabokovs «Lolita»: Wenn man Erzähler Humbert folgt, könnte man denken, man lese eine schöne Liebesgeschichte. In Wirklichkeit zwingt uns Nabokov die Denkweise eines Pädophilen auf.

Statt eines Pädophilen haben Sie das Thema Krieg.

Auch hier ist die grosse Frage: Wer schreibt unsere Geschichte? Wer hat das Privileg? Wir erzählen viele Geschichten, und alle sind Opfer. Keiner schaut in seinen Hinterhof und erzählt von den Grausamkeiten, für die er verantwortlich ist. Als ich in Bosnien aufwuchs, waren Geschichten überall – im Fernsehen, in der Presse. Überall. Jeder hatte Geschichten, die er über die anderen erzählte. Es fing allmählich an, aber dann wurde aus dem Moslem der Mudschaheddin und dann der Taliban. Dabei ging es immer in Wirklichkeit um den Menschen, der schon seit ewigen Zeiten dein Nachbar war.

Während Sara behütet aufwächst, muss Lejla Begic ihren Namen serbisieren und die Hänseleien der Schulkameraden erdulden. Ihr Bruder und ihr Vater verschwinden. Darüber wird nicht geredet in diesen Tagen, in denen sich die Dunkelheit ausbreitet, «als ob ein boshaftes Kind sie über uns ausgeschüttet hätte», wie es in der wunderbaren Übersetzung von Rebekka Zeinzinger heisst. Sara kann Armins Verschwinden nicht begreifen, Lejla nicht darüber sprechen.

Lana Bastašić: Fang den Hasen. Roman. Aus dem Bosnischen von Rebekka Zeinzinger. S. Fischer, 336 S. Der Roman erscheint am 10. März.

Lana Bastašić: Fang den Hasen. Roman. Aus dem Bosnischen von Rebekka Zeinzinger. S. Fischer, 336 S. Der Roman erscheint am 10. März.

Reden wir über Hasen. Die sind in Ihrem Buch überall, im Titel und mit «Alice im Wunderland» von Lewis Carroll auch schon im Motto.

Der Hase holt Alice aus ihrer gemütlichen, bourgeoisen Existenz. Wunderland wird zum Spiegel für eine Kindheit in Bosnien in den 90ern: In beiden geschehen verrückte Dinge, und es gelten völlig sinnlose Regeln. Wunderland ist sehr gewalttätig und furchterregend: Köpfe werden abgeschnitten, Menschen werfen sich Töpfe und Pfannen an den Kopf. Alice hat nie die richtige Grösse: mal ist sie zu gross, mal zu klein. Und sie wird immer gefragt: Wer bist du? Wer bist du? Und das war und ist auch die Frage in Bosnien. Wer bist du? Serbisch? Kroatisch? Bosnisch? Moslem? Christ? Wir waren Kinder, ich war ein kleines Mädchen. Aber dann sagt die Taube: Nein, du bist kein kleines Mädchen. Du bist eine Schlange!

Sara ist in ihrer Zeit in Dublin nicht nur die eigene Kindheit, sondern auch die Muttersprache fremd geworden. Die ruhte zwölf Jahre lang «tief in mir begraben». Das Thema Sprache durchzieht den ganzen Roman. Auf der Reise gaukelt Lejla einer Bekannten sogar vor, Sara sei Irin und spreche die Landessprache nicht.

Sie haben Englisch studiert, sprechen Spanisch und Katalanisch. Wie ist Ihr Verhältnis zu Sprachen?

Als ich klein war, sprach ich mit kroatischem Dialekt, den habe ich in Banja Luka verloren. Ich habe früh gelernt, dass Sprache sich verändern kann, dass sie willkürlich ist. Ich habe im bosnischen Dialekt geschrieben, aber ich nutze bewusst kroatische und serbische Ausdrücke. Ich wollte, dass es – wie Lejla – unfassbar wird, flüchtig. Linguistisch gesehen ist es ohnehin eine Sprache. Wir brauchen keine Übersetzer. Mein Buch wurde unverändert in drei Verlagen veröffentlicht. Verrückterweise steht jetzt auch in jeder Übersetzung etwas anderes: Aus dem Bosnischen, dem Serbischen, dem Kroatischen. Dabei ist es jedes Mal derselbe Text.

War Ihre Rückkehr aus Barcelona auch eine Rückkehr in die Sprache?

Als mein Buch herauskam, merkte ich, dass mir die literarische Szene fehlt. Obwohl die auf dem Balkan Frauen gegenüber, vorsichtig gesagt, nicht sehr offen ist. Aber ich wollte dort sein, kämpfen, zeigen, dass ich meinen Platz verdiene. Ich wollte in der Sprache sein. Mir half es, in der Ferne zu leben, um nicht wütend, nicht bitter zu werden. Mit Wut und Bitterkeit hätte ich nicht schreiben können.

Online-Literaturfestival: Tage der südosteuropäischen Literatur, 26.-28.2.2021, literaturhaus.ch, Lana Bastašić: Samstag, 27.2., 17 Uhr (mit Marko Dinic)