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Schauspieler Robert Hunger-Bühler erinnert sich an seine Aarauer Kindheit und erzählt, was ihn mit Hermann Burger verbindet.
Der Schauspieler Robert Hunger-Bühler arbeitet mit den grossen Regisseuren: Marthaler, Stein oder Zadek. Und an den grossen Häusern: an der Schaubühne, am Burgtheater, am Zürcher Schauspielhaus. Dass der Bühnenstar Kindheit und Jugend in Aarau verbracht hat, ist kaum bekannt. Jetzt ist Hunger-Bühler vorübergehend nach Aarau zurückgekehrt. Geholt hat ihn Peter-Jakob Kelting, Leiter des Theaters Tuchlaube. Hunger-Bühlers Mission: die Herstellung einer Bühnenfassung des im Nachlass von Hermann Burger entdeckten Romans «Lokalbericht», Regie inklusive. Wir haben Robert Hunger-Bühler (63) im Café Tuchlaube in Aarau getroffen und mit ihm über Hermann Burger gesprochen. Wie es sich anfühlt, wenn man nach über 40 Jahren wieder in der Stadt der Kindheit ankommt.
Und wie fühlt es sich an? «Es ist wahnsinnig», sagt Hunger-Bühler. «Normalerweise muss ich mir bei einer Arbeit mit einem neuen Stoff zuerst Bilder schaffen. Diesmal ist das ganz anders. Die Erinnerung an das Aarau meiner Kindheit erzeugte eine Überfülle von Bildern. Ich musste sie nicht suchen, sondern reduzieren.»
Robert Hunger-Bühler wurde in Aarau gründlich sozialisiert. Er spielte Fussball beim FC Aarau und brachte es bis in die Aargauer Auswahl; er war Pfadfinder in der katholischen Abteilung St. Georg und talentierter Leichtathlet.
Die grosse Familie Hungerbühler lebte am Rande von Aarau. Stundenlang sei er durch den nahen Wald von Roggenhausen gestreift; im Wald habe er sich frei und befreit von der einengenden Schule gefühlt.
Unverhofft trat die Schauspielerei in sein Leben. «In der Bezirksschule mussten wir einen Vortrag halten. Das tat ich – und eher unbewusst habe ich meinen Text dann ziemlich auswendig rezitiert. Lehrer Stirnemann hörte sich das aufmerksam an und sagt dann lakonisch: ‹Röbeli, dafür gib es einen Beruf›.»
Hunger-Bühler absolvierte tapfer das Lehrerseminar. In der Freizeit aber nahm er Schauspielunterricht oder sass im Theater. So war das auch an einem Herbstabend im Jahre 1972. In der Innerstadtbühne spielte die «Claque» aus Baden «Die Eisenwichser» von Heinrich Henkel mit Hansrudolf Twerenbold und Albert Freuler. Tief beeindruckt vom Spiel der beiden, folgt Hunger-Bühler nach der Vorstellung Albert Freuler, als dieser den Theaterkeller verlässt. «Ich musste sehen, wie die Verwandlung passiert. Wie der Schauspieler aus der Rolle steigt und wieder ein gewöhnlicher Mensch wird.» Bis zum Bahnhof sei er Freuler gefolgt, aber den Moment der Verwandlung habe er wohl verpasst.
Am Seminar inszeniert er den Einakter «Die Hochzeit» von Anton Tschechow; da weiss er längst, dass er nicht ins Schulzimmer will, sondern auf die Bühne muss. Nach der Rekrutenschule als Radfahrer verlässt er die Kleinstadt. «Aarau hatte damals einen bürgerlichen Drang, der mir auf die Nerven ging.»
Wie erlebt er Aarau heute? Hunger-Bühler weist auf die verkehrsberuhigte Metzgergasse, wo ein Bus durchfährt. «In Aarau ist alles so gemächlich. Sehen Sie: Die einzige rasche Bewegung, die es hier gibt, entsteht, wenn sich die Menschen vor dem Bus in Sicherheit bringen.»
Der Schriftsteller Hermann Burger und der elf Jahre jüngere Seminarist Robert Hunger-Bühler haben Anfang der 70er-Jahre gleichzeitig in Aarau gelebt. «Ich habe damals Burger nicht als Schriftsteller wahrgenommen, sondern als Figur im Stadtleben», erzählt Hunger-Bühler. «Einmal sah ich ihn an der Migrol-Tankstelle in der Igelweid. Er liess dort, mitten in der Stadt, seinen Ferrari auftanken. Burger, mit langem rotem Schal und schwarzem Schlapphut, lehnte an der Kühlerhaube und hielt Hof, redete mit den Leuten, mit sicherem Blick für die jungen schönen Aarauer Mädchen. Er kam mir vor wie ein aus der Zeit gefallener schwarzer Engel.»
Man habe sich allerlei über Burger erzählt, auch, dass er heimlich an einem Roman schreibe.
Burger hat damals tatsächlich an seinem ersten Roman geschrieben. «Lokalbericht» heisst das Werk, das in den Jahren um 1970 entstand. Es handelt von einem Lokaljournalisten, der genau das tut, was man sich von Burger erzählte: Er schrieb heimlich einen Roman, der in einer Kleinstadt spielt, die unschwer als Aarau zu erkennen ist. Burger hat damals den Roman nicht veröffentlicht. Man müsse den Text ein oder zwei Jahre liegen lassen, habe er gesagt. Nun sind halt daraus 45 Jahre geworden; das Manuskript war verschollen und wurde erst kürzlich in Burgers Nachlass wieder entdeckt. Die Rückkehr des «Lokalberichts» nach Aarau sei «eine hochraffinierte Geste, an welcher der Zauberer Burger wohl seine helle Freude hätte», sagt Hunger-Bühler. Der Text sei ein Geschenk, sei ein hochexplosiver Stein, der im Burger-Mosaik noch gefehlt habe. «So avantgardistisch hat Burger nie mehr geschrieben.» Doch trotz aller Kritik sei der Roman auch eine Art Liebeserklärung an Aarau.
Eignet sich Burgers Text überhaupt für die Bühne? «Auf jeden Fall», sagt Regisseur Hunger-Bühler. Der ‹Lokalbericht› ist für mich ein Roman über die Findung von Identität, über die Frage, was ist meine Bestimmung? Was will ich mit meinem Leben machen? Ein hochtheatralischer Vorgang.»
Hunger-Bühler hat die Handlung für die Bühne priorisiert und den Text entsprechend reduziert; wichtig war ihm, dass der Text unversehrt blieb. «Burger schrieb, als ob er die Sätze gleich selber deklamieren täte oder singen würde; manchmal tönt seine Sprache wie ein Wasserfall oder ist wie lautes Denken.»
Doch genau diese burgerschen Sätze sind eine besondere Herausforderung. «Es sind sprachartistische Höchstleistungen, die unsere Schauspieler erbringen müssen», erklärt Hunger-Bühler, «komplizierte, lange, verschachtelte Sätze.» Wenn man da den Faden verliere, sei man weg. «Aber wenn sie gelingen, dann sind sie herrlich.»
Wie aus dem Romantext konkrete Handlung auf der Bühne entsteht, will Hunger-Bühler nicht verraten. Nur eine Szene gibt er preis: Im Roman beschreibt Burger akribisch, wie sein Protagonist Frischknecht die alte Schreibmaschine, eine Olivetti Valentine, gegen eine neue Hermes Media 3 austauschen will; auf der Bühne mündet dies in ein sinnliches Schreibmaschinenkonzert mit den alten Originalen.
Dann ist das Gespräch beendet. Regisseur Hunger-Bühler muss zurück an die Arbeit. Der erste technische Durchlauf steht an. Eine Frage zum Schluss: Ob er sich vorstellen könnte, wieder nach Aarau zu ziehen? Er zögert, will sich nicht verbindlich äussern, sagt einzig: «Wissen die Aarauer eigentlich, wie schön ihre Stadt ist?»
Der Magier ist zurück. 27 Jahre nach seinem Tod überrascht Hermann Burger wieder. Im umfangreichen Nachlass entdeckten Germanisten ein Romanmanuskript, das man bisher schlicht übersehen hatte. Dabei handelt es sich um Burgers ersten grösseren Text. Der Germanist Simon Zumsteg, der sich im Rahmen eines Nationalfondsprojektes mit dem Roman befasst, spricht von einer «kleinen literarischen Sensation». Der «Lokalbericht» ist ab 21. Oktober im Buchhandel erhältlich.
Simon Zumsteg: Der Literaturwissenschafter Magnus Wieland hat im Herbst 2008 im Rahmen seiner Vorbereitungen für die Zürcher Gedenkausstellung anlässlich von Burgers 20. Todestag die Bedeutung dieses im Nachlassinventar seit je verzeichneten Textes erkannt. Die Edition verdankt sich Wielands Initiative.
Das war schnell klar. Es handelt sich um ein dreiteiliges, von Burger mit Seitenzahlen versehenes Typoskript. Zum ersten Teil existiert sogar eine «Inhaltsübersicht».
Ja. Der Titel ist zugleich das erste Wort des Texts und dessen poetologisches Programm. Das ist typisch für Burger, der ja ab 1969 auch als Kulturjournalist für das «Aargauer Tagblatt» arbeitete. Noch in seinem letzten Roman «Brunsleben» (1989) lässt er seine Hauptfigur von der poetischen Qualität des Lokalteils einer Zeitung schwärmen und sagen, das Lokale sei «das wahre Poetische».
Es gibt Briefe von Burger, in denen er selbst darüber spricht. Es seien, sagt er, die zeitintensiven Vorbereitungen auf seinen Uni-Abschluss (1971/72) gewesen, die ihn an der Verwirklichung des Projekts gehindert hätten. Und 1972 stiess er mit «Schilten» bereits auf seinen «grossen Stoff». Dessen Ausarbeitung verdrängte dann jene des «Lokalberichts».
Darüber lässt sich nur spekulieren, aber ich kann zwei vielleicht sprechende Beispiele geben. 1985 liess der mehrfach literaturpreisgekrönte Burger im «Aargauer Tagblatt» seine allererste Veröffentlichung «Der Schnee gilt mir» von 1963 (!) noch einmal abdrucken. Und als Literaturwissenschafter – er hatte ja habilitiert in Germanistik – begrüsste er die postume Publikation von Robert Musils Fragment gebliebenem «Mann ohne Eigenschaften»: Wir hoffen daher tatsächlich, dass wir ihm mit der Veröffentlichung aus dem Nachlass nichts zuleide getan haben.
Für die Literaturwissenschaft ist der Text sicher interessant: Darin kündigt sich erstmals Burgers spätere Art des Schreibens an, und der «Lokalbericht» bereichert den Chor der deutschen Literatur um 1970 um eine ganz eigenwillige Stimme. Der «Alltagsleser» hingegen ist ja bei Burger seit je ein Zankapfel. Seine Leserschaft ist sicher nicht eine allzu alltägliche. Es gehört schon eine gewisse Bereitschaft dazu, sich auf die Sprachspielereien und gelehrten Anspielungen einzulassen, die Burger im «Lokalbericht» erstmals ausprobiert.
Meine Beschäftigung mit Burger hat ja schon ein bisschen früher eingesetzt. Insofern hat meine Mitarbeit an der Herausgabe des «Lokalberichts» nichts wirklich Unerwartetes an den Tag gebracht, aber, wenn Sie mich nach dem Menschen fragen, zumindest dies bestätigt: Burger erlebte die Zeiten der Inspiration – den «Lokalbericht» schrieb er innert weniger Sommerwochen nieder – als höchstes Glück.
Das führt mich noch einmal zum ominösen «Alltagsleser» zurück. Wer das Aarau um 1970 noch in Erinnerung hat, wird bei der Lektüre zweifelsohne den einen oder anderen «Schlüsselmoment» haben, ja. Aber das ist nicht der Clou des Textes, denn Burgers Poetik folgt schon hier dem Prinzip der Verfremdung. Die Versatzstücke der Realität dienen ihm nur als Sprungbrett in die Fiktion. Wer die zu Typen verdichteten Figuren seines Romans auf historische Personen reduziert, müsste sich daher wohl die Vorwürfe des Voyeurismus oder der Eitelkeit gefallen lassen.
Nein, dieses Vergnügen hatte ich bisher noch nie.
Das mit dem «Verstehen» ist halt so eine Sache. Verstanden Berliner um 1930 Alfred Döblins «Berlin, Alexanderplatz» leichter? Oder haben Niederbipper mehr von Gerhard Meiers «Amrainer Tetralogie»? Auf jeden Fall dürften Aarauer auf Anhieb erkennen, dass das, was im «Lokalbericht» für Ortsunkundige wie kühne Fantasie anmutet, absurd viel mit ihrer alljährlich wiederkehrenden Realität zu tun hat. Damit kann das «Verstehen» von Burgers raffiniertem Text sein Bewenden aber auf keinen Fall haben.
Die geschwurbelte Wendung nimmt Burgers Titel seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung von 1986 auf, der seinerseits auf Heinrich von Kleist anspielt: «Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben». Vorstellen muss man sich darunter lediglich dies: Obwohl Burger den «Lokalbericht» im Sommer 1970 regelrecht hingefetzt hat, geht diesem Text eine lange Vorbereitungszeit voraus. Die Vorstufe des frühesten Textbausteins datiert von 1960 – da besuchte Burger noch die Alte Kantonsschule in Aarau.