Theater
Sie haben (noch nicht) genug: Die Leiter des Theater Maries schicken zum Abschied den Sensemann vorbei

«Ich habe genug» kündigt den Leitungswechsel am Theater Marie an. Doch auch das Weltgeschehen mischt sich ein.

Valeria Heintges
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Darf man heute über den Sensemann lachen? Das Theater Marie versucht es jedenfalls.

Darf man heute über den Sensemann lachen? Das Theater Marie versucht es jedenfalls.

Von «Zeitenwende» ist gerade viel die Rede, weil sich lang gehegte Sicherheiten in Luft auflösen und Paradigmenwechsel stattfinden. Wie tiefgreifend diese Veränderungen sind, wie sehr etwa auch die aktuelle und regionale Kunst vom Krieg in Osteuropa betroffen ist, lässt sich derzeit in der Alten Reithalle in Aarau und demnächst auch in Basel, Baden und Bern beobachten. Überall dort, wo das Theater Marie sein Stück «Ich habe genug» zeigt.

Der Titel ist mehrdeutig. Er ist zunächst einmal der Titel einer Bachkantate, Nummer 82 im Bach Werke Verzeichnis (BWV). Hier hat ein tieftrauriger Mensch restlos genug vom Leben und will sterben, voller Hoffnung auf ein Leben danach. «Ich freue mich auf meinen Tod», heisst es in einer Zeile. Der Titel lässt sich zudem als «Ich habe genug erlebt» deuten, auch im Sinne von: Ich wurde reich beschenkt.

Wenn ihn Regisseur Olivier Keller und Dramaturg Patric Bachmann als Titel über ihr gemeinsames letztes Werk setzen, das sie nach zehn Jahren Leitung des Theaters Marie als, so der Untertitel, «Über Abschiede. Mit Bach» inszenieren, dann ist auch Selbstironie im Spiel. «Wir spüren nämlich stark, dass wir noch nicht genug haben», sagt Keller im Interview mit Radio SRF. Ein Leitungswechsel am Theater – das ist gleichzeitig Abschied und Aufbruch zu neuen Ufern – sowohl für die Intendanten selbst als auch für das Theater Marie als Kulturinstitution.

Ein Abschied von treuen Weggefährten

Der Haufen von Requisiten, den das Förderband da auf die Bühne transportiert, löst vor allem bei langjährigen Fans des Ensembles Begeisterung aus: Ein Riesenpopcorn aus «Kino Marie», ein Pferdekopf aus «Eroica» – für das auch schon Bo Wiget die klassische Beethoven-Musik bearbeitete. Ein Polizistenkopf aus «Liliom», und ein Hase aus «Frau im Wald» – wunderbar drapieren die Akteure Herwig Ursin, Michael Wolf und Eva Brunner die skurrilen Gegenstände, betten sich darauf, um sich dem Schlaf hinzugeben, dem Bruder des Todes, nutzen sie sogar als Unterbau für einen finalen, kleinen Wasserlauf.

Doch sträubt sich Bachs Musik und der Text seiner Kantaten gegen ein Zuviel an Selbstironie, durchströmt die Musik doch bei allen fröhlichen Melodien auch Melancholie, beinahe eine Depression, ein Genughaben von der Welt, wie sie ist.

Sie würden sich damit, sagten Olivier Keller und Patric Bachmann im Radio-Interview, auch noch einmal von ihrem langjährigen Bühnenbildner Erik Noorlander verabschieden, der zu Beginn zum Leitungsteam gehörte, aber 2019 seinem Krebsleiden erlag.

Den Bach verjazzen

Diese Ambivalenz zwischen Selbstironie und Trauer liegt dem Abend zugrunde. Zu hören sind ausschliesslich Originaltexte, entnommen aus Bachs Liedern und Kantaten, gesprochen und gesungen.

Cellist und Komponist Bo Wiget verarbeitet die Originalmusik plus Lieder wie «Nun ruhen alle Wälder und noch bekanntere Melodien wie Bachs «Air», um diese in seinen Kompositionen sowohl zu zitieren als auch zu bearbeiten. Wenn etwa Simone Keller die Saiten ihres Klaviers mit Klebeband fixiert und so einen scheppernden, fast schlagzeugartigen Ton erzeugt.

Wenn sie und Bo Wiget fröhlich feixend ihren Blasharmonikas fast seemannsliedartige Weisen entlocken oder Lara Stanic in ihre Querflöte pustet, als wäre sie blutige Anfängerin oder betrunken oder beides. Wenn die Sopranistin Lena Kiepenheuer ihren klaren Sopran schneidend in die Höhe treibt und die Kompositionen Bach so verjazzt, verrappt oder sonst wie verfremdet werden.

Die falsche Zeit für einen ironischen Trauerzug

Doch ein ironischer Umgang mit dem Tod und der Angst funktioniert in diesen Tagen nur noch sehr bedingt. Hätte die Inszenierung vor zwei Wochen Premiere gefeiert, wäre sehr viel mehr gelacht worden und die Ironie sicherlich perfekt aufgegangen. Vielleicht hätte man es sogar lustig gefunden, dass gegen Ende Herwig Ursin in einem aufblasbaren Skelettkostüm auf die Bühne getanzt kommt und dass sie alle dastehen wie die Untoten, die Wiedergänger.

Aber wer mag heute wirklich unbeschwert lachen, wenn der Tod über die Bühne wankt? Wer denkt an einen Leitungswechsel im Theater, wenn ein Begräbnisumzug umherzieht und wieder und wieder – «Klagt, Kinder!» – singt? Und so kippt der Abend, kippen seine Bedeutungen. Sieht man erst einen berührenden Trauergesang, kurz einen Abgesang auf zwei Leiter, die das Theater Marie geprägt und künstlerisch vorwärtsgebracht haben.

Und dann eine Inszenierung, die sich zu lange selbst feiert, blind nach rechts und links. Und die ohnehin zu lange dauert. Und wieder bekommt der Titel eine neue Bedeutung, wenn man nach 70 Minuten, eine halbe Stunde vor Schluss, denkt: «Ich habe genug.»

Ich habe genug. Über Abschiede. Mit Bach: bis 6.3. Alte Reithalle, Aarau. Weitere Termine in Baden, Basel und Bern. Buchvernissage Ohne festen Wohnsitz am 6.3. ab 11 Uhr, Bar im Stall, Aarau