Musiktheater
So poetisch klingt die Apokalypse

Das Collectif barbare schickt sein Publikum mit dem Stück «Wildern» auf eine poetische Weltreise von Kiew bis Kinshasa.

Anna Raymann
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Arktische Forschungsstation oder apokalyptischer Bunker? Vera Kardos spielt einsam für «Wildern».

Arktische Forschungsstation oder apokalyptischer Bunker? Vera Kardos spielt einsam für «Wildern».

Fabrice Nobs

Das Publikum flüstert noch, tuschelt vom letzten Urlaub in New York. Die seltsame, hüttengrosse Kiste auf der Bühne steigt mit ein in das Gemurmel und übernimmt bald ganz. Weiss schimmert sie im dunklen, randlosen Raum der Alten Reithalle. Ein Eiswürfel könnte es sein, so überlegt man. Oder eine arktische Forschungsstation? Man lauscht:

«… wir essen fisch der nach petrol riecht und // kochen mit petrol das nach fisch riecht // wie der fluss der nach petrol und fisch // riecht der fluss der keine grenze sei …»

In Endlosschleife wiederholen mehrere Stimmen die Zeile, bis sie ein- und überholen. Das Collectif barbare um die Pianistin und Regisseurin Astride Schlaefli ist fester Bestandteil der Aargauer Theaterszene. Jedes Jahr nehmen sie sich eine Produktion vor – nun sind schon zum zweiten Mal Gedichte von Raphael Urweider Ausgangspunkt für ein installatives Musiktheater. Urweider selbst habe sich zunächst schwergetan, sich seine Gedichte als Bühnenstoff vorzustellen: «Eigentlich sollten Gedichte sich selbst genügen, finde ich.»

Nächste Station: Sonnenuntergang

Sein Gedichtband «Wildern», von dem auch das Stück den Titel übernimmt, ist ein lyrisches Reisetagebuch. Darin finden sich Szenen aus Ljubljana und Kinshasa, aus Neu-Deli und Singapur und den Wegen dazwischen. «Es war schwierig, eine Reihenfolge zu finden, da die Welt rund und ein Buch rechteckig ist», erzählt Raphael Urweider und sortierte schliesslich nach den Zeiten der Sonnenuntergänge.

Trotz anfänglicher Bedenken – «Wildern» funktioniert auch auf der Bühne. Stark ist die Inszenierung in ihrer Genügsamkeit. Mehr als diese wacklige Wunderkiste, vollgestellt mit allerhand skurrilem und nützlichem Gerümpel, braucht das poetische Szenario nicht. Es gibt kein (sichtbares) Ensemble. Halt gibt allein seine Bewohnerin: Die Geigerin Vera Kardos führt mit leichtfüssigem und doch bestimmtem Spiel durch das Stück. Ihr Instrument ist nicht nur die Geige, sondern auch mal knisternde Folie und klimpernde Schlüssel. Ist sie selbstbestimmte Eremitin oder gar letzte Überlebende einer verschluckten Zivilisation? Ist die Hütte doch eher ein Bunker in einer unbehaglich gewordenen Welt?

Lethargie ist keine gute Antwort auf die Apokalypse

Die Verlorene ist in ihrem fragilen Zuhause wechselhafter Witterung ausgesetzt. Regen und Sturm ziehen am Dach, immer wieder zerreisst ein kräftiger Donner das Stück. Das ist – man spürt es und die plärrende Stimme aus dem Radio bestätigt – gewaltiger als das Treiben der Jahreszeiten. Wer den Planeten zurück ins Gleichgewicht stossen soll, ob wir oder die Natur, lässt das Stück offen.

Es ist ein wenig, als würde man jemandem beim Denken zusehen. Und wie es dabei häufig ist, entgleitet auch mal ein Gedanke, ehe er zu Ende gedacht ist. So wirkt die verträumte Szenerie gelegentlich ungeduldig. Gewiss, Lethargie ist eine denkbar schlechte Antwort auf die Apokalypse, aber dennoch hätte mal ein Geigenspiel, mal ein Gedicht mehr Ruhe einfordern dürfen. Denn dort, wo das Stück aufatmet, fügt es sich poetisch und fantasievoll in die besinnliche Jahreszeit.

Wildern: 9.Dezember, Alte Reithalle, Aarau