Nach dem wuchtig-zarten, preisgekrönten «Tamangur» (2015) legt die Bündner Schriftsteller Leta Semadeni mit «Amur, grosser Fluss» einen poetischen Liebesroman vor.
Ein literarischer Glücksfall, ja, das ist schon nach den ersten drei, vier kurzen Sätzen dieses Buches klar. Mit der bildstarken Ouvertüre einer Mondnacht bringt Leta Semadeni den Schauplatz ins Vibrieren. Da verbindet sich das Romantische mit dem Existenziellen, die Liebe mit der Vergänglichkeit, und man denkt unwillkürlich an die himmeltraurig-schönen Texte von Adelheid Duvanel, die ebenfalls mit herzzerreissenden Gegensätzen schrieb.
Bedauernd möchte man ausrufen: Ein spätes Literaturwunder! Das «spät» hört Leta Semadeni aber gar nicht gerne:
«Ich habe immer geschrieben, seit meiner Kindheit.»
Trotzdem: Die 1944 geborene Autorin war zwar in Graubünden als Lyrikerin schon lange literarisch etabliert, erhielt 2011 den Bündner Literaturpreis. Aber erst 2015, mit dem Erscheinen ihres Romandébuts «Tamangur», kam die Begeisterung auch in der Restschweiz an. Mit bisher 13 Auflagen wurde das Buch zum Publikumsliebling und Longseller. «Amur, grosser Fluss» ist nun eine Art Fortschreibung. Das Mädchen in «Tamangur», das den Tod des kleinen Bruders verschuldet hat und bei ihrer Grossmutter aufwächst, weil die Eltern sie nicht mehr ertrugen und verlassen haben, berichtet nun als ältere Frau Olga von ihrer Lebensliebe zu Radu. Und Leta Semadeni sagt dazu:
«Ich wollte eine grosse Liebe beschreiben, keine lauwarme»
Eine grosse «Amur», eine Liebe mit langen Pausen, ist diese Geschichte denn auch geworden: mit Schweigen, Zärtlichkeit und unvereinbaren Gegensätzen bis zur Trennung. Radu ist Dokumentarfilmer, ständig unterwegs, kehrt nur wochenweise zu Olga zurück, die ihn als wissenschaftliche Zeichnerin manchmal begleitet. Als sie sich in Ecuador kennen lernen, realisiert Olga, dass sie Radu schon von der Schule her kennt. Er habe dort einmal einen Gastvortrag über den Amurtiger gehalten. Eine märchenhafte Verbindung, die das Gegensätzliche in diesem Buch andeutet: Nähe und Weite, Gegenwart und Erinnerung, Frühling und Herbst, Jugend und Alter, New York und Engadin. Nebel, Raben, Wiese, Weltall – Semadeni setzt ihre poetischen Referenzen weiträumig und souverän.
Dass sie im Grunde eine Lyrikerin geblieben ist, erklärt die Autorin so:
«Es gehört zu meiner Person, etwas so knapp zu sagen. Mein Wunsch wäre es ja, einen tausendseitigen Roman zu schreiben. Aber das werde ich nie können.»
Sie habe sich beim Schreiben von «Amur» zwingen müssen, nicht ständig Wörter rauszustreichen, so wie sie es sich beim Gedichteschreiben gewöhnt war. Poetisch verdichtet ist «Amur, grosser Fluss» dennoch. Und wer mit bildhafter Verdichtung Mühe hat, dem erzählt Leta Semadeni gerne eine Episode aus Ecuador. Dort sei Kaffee als Konzentrat mit einer zweiten Tasse mit Heisswasser serviert worden: «Meine Texte sind wie jenes Kaffeekonzentrat. Das Wasser müssen die Leser schon selbst hinzutun.»
«Amur, grosser Fluss» ist ein Buch wie ein Trauergesang, eine Urform der Poesie. Hier in 105 Prosaminiaturen, die Erinnerungsstücke einer starken, sinnlichen Frau aufscheinen lassen. Eine chronologische, lineare Erzählung darf man nicht erwarten. Hingegen eine Fülle subtiler Szenen und Träume, Erinnerungsbilder und kultureller Referenzen – und vor allem mit hinreissenden Sätzen. Da sind etwa Grossvaters Hände wie «zwei Hunde»; als Olga sich in Radu verliebt, habe er so ausgesehen, «als sei die Welt gerade erst von ihm erfunden worden» und dass er aus dem Mund immer nach frischen Äpfeln riecht, betört sie. Dann beschreibt sie die Beinbewegungen einer Tangotänzerin, die «wirkten wie Säbelhiebe». Auch das Makabre hat Platz. Nachdem Radu sie verlassen hat, will Olga ihn symbolisch ermorden und schlechtreden. Sie fantasiert ihm ein aufgedunsenes Gesicht und sagt: «Es gab wirklich keinen Grund, sich noch länger mit dieser hässlichen Leiche zu beschäftigen.»
Ein literarisches Wunder? Ja, aber ein erklärbares. Leta Semadeni ist weit gereist, hat viele Sprachen studiert und im Engadin lange als Lehrerin gearbeitet. Dass das Bündnerland starke Gegenwartsliteratur hervorbringt, belegen auch andere Gegenwartsautoren wie Arno Camenisch, Leo Tuor oder Romana Ganzoni. Neben der schroffen Landschaft sei es wohl der Sprachwechsel, der diese bildhafte, poetische Intensität hervorbringt, vermutet Leta Semadeni, die erst in der Schule Deutsch gelernt hat: «Jedes deutsche Wort ist für mich eine faszinierende Entdeckung», sagt sie. So ist auch ihr Text – mäandrierend oder wie eine Zeitkapsel, zwei Wörter, die auch ihre Hauptfigur Olga begeistern.
So beginnt «Amur, grosser Fluss» denn auch mit bildhafter Sprache: Über der bleichen, vollkommen leeren Wiese ist ein Surren wie von einem Telegrafenmast zu hören, und darunter der Tod, die Zeit. Eine Mondnacht also – und Joseph von Eichendorffs legendärer Gedichtanfang «Es war, als hätt der Himmel die Erde still geküsst, dass sie im Blütenschimmer von ihm nun träumen müsst» lässt die Autorin ihre Heldin Olga später im Buch denn auch einmal zitieren. Während Radu ein Realist ist, weitet sich die Welt für die Erzählerin und Romantikerin Olga wie selbstverständlich in den Traum, die Erinnerung, das Fantastische.
Da klebt für einmal ein Gegenwartsroman nicht an Autobiografie oder an Sozialrealismus, sondern lotet den literarischen Raum der Gefühls- und Traumwelt aus. Dass Literatur den Zugang zum Unterbewussten öffnen kann, macht «Amur» deutlich. Semadeni selbst sagt: «Ich vertraue meinem Unterbewusstsein mehr als dem sogenannten gesunden Menschenverstand. Wenn ich meinem Instinkt vertraut habe, kam es gut.» Und zum Autobiografischen ihres neuen Romans sagt sie lächelnd: «Natürlich gibt es Dinge, die mit mir zu tun haben. Auch ich habe ein Jahr in Ecuador gelebt und habe einmal eine Flussfahrt von Kiew bis zum Schwarzen Meer gemacht. Aber leider ist dieser Radu nur erfunden. Ich mag ihn, aber ich kenne keinen solchen Radu.»
Leta Semadeni: Amur, grosser Fluss. Roman. Atlantis, 184 S.