Es ist das Comeback des Jahrhunderts. 40 Jahre nach ihrer Trennung und fast 50 Jahre nach ihrer Gründung kehrt die schwedische Band mit neuer Musik auf dem Album «Voyage» zurück. Es klingt, als wären sie nie weg gewesen.
Eine Milliarde Dollar wurde für eine Tour geboten, 100 Millionen Dollar für ein einziges Konzert – ein amerikanisches Konsortium hatte das vor 18 Jahren für eine Comeback-Tour von ABBA offeriert. Doch Agnetha, Björn, Benny und Anni-Frid, besser bekannt unter ABBA, lehnten ein Comeback lange kategorisch ab. Jetzt hats doch noch geklappt: «Voyage» heisst die Sammlung von zehn neuen Songs, die jetzt veröffentlicht wurde.
Und das Album klingt, als wären sie nie weggewesen. ABBA hatte Mitte der 1970er-Jahre die Formel für den zeitlosen Popsong definiert. Jetzt ist alles wieder da. Dieser einzigartige, mehrstimmige Gesang von Anni-Frid Lyngstad und Agnetha Fältskog, der sich wunderbar ergänzt und zu einer Einheit verschmilzt. Diese Melodieseligkeit, volksliedhafte, leicht singbare Tonfolgen, die in den Gehörgängen haften bleiben. «Melody first» lautet das Credo für das Komponisten-Duo Benny Andersson Björn Ulvaeus auch im Jahr 2021. Sie ist wieder da diese euphorische Grundhaltung, diese Fröhlichkeit, die die Hörenden in eine Traumwelt versetzt. Diese Harmonie, diese Eleganz und Leichtigkeit. Diese Hochglanzpolitur zwischen Kunst und Kitsch. Diese Klangperfektion, die damals in der Popwelt einen neuen Standard setzte.
Die Bedeutung von ABBA für die Geschichte des Pop und vor allem für die europäische Popmusik kann nicht überschätzt werden. Mit ihren makellosen, glattpolierten Songs wurde ABBA die Anti-These zur Rockmusik. Viele Leute hatten die Nase voll vom ewigen Aufstand der Rock-Rebellen. Erst recht von den anstrengenden und angestrengten Exkursen der Progressiven. Harmonie statt Rebellion war angesagt. «Mit einem Schlag löste Popmusik die Rockmusik ab», schrieb damals der «New Musical Express». ABBA wurde zur «Avantgarde der Normalen».
Aber noch wichtiger war die kontinentaleuropäische Emanzipation. ABBA lösten sich konsequent vom herrschenden anglo-amerikanischen Pop-Diktat und definierten einen durch und durch europäischen Pop. Frei von den afro-amerikanischen Elementen des Rock, Soul und Blues. Stattdessen knüpfte ABBA an der europäischen Liedtradition an, bei den frühen Beatles und der klassischen Musik. Das war neu, immer wieder überraschend und raffiniert.
Heute ist ABBA die Band, auf die sich alle einigen können. Superstars wie Madonna, Tina Turner lieben sie und selbst Rockmusiker wie Pete Townshend und Punk-Rocker wie Sid Vicious zählen zu den Fans der schwedischen Band. Doch das war nicht immer so: Nach dem Sieg mit «Waterloo» am Eurovision Song Contest 1974 löste die Band heftige Kontroversen aus. Selbst Schweden war gespalten. Für die grosse Rock-Gemeinde war das Quartett zu kommerziell, zu banal, zu oberflächlich. Bekannte und renommierte Jazzmusiker wie der Saxofonist Ulf Andersson oder der Gitarrist Janne Schaffer, die in der Band mitspielten, wurden als Verräter gebrandmarkt, gemieden und für Konzerte nicht mehr gebucht. Auch die Schweiz erlebte ihr Waterloo. André Béchir, damals Chef von Good News, musste das geplante Konzert der schwedischen Band im Kongresshaus Zürich mangels Nachfrage absagen.
Die Band, die heute alle mögen, legte einen veritablen Fehlstart hin. Doch die Band musste sich zuerst finden. Der Song «S.O.S.» von 1975 gilt als der «erste richtige ABBA-Popsong». Es folgte «Mamma Mia». Mit diesen beiden Songs hatte das Quartett seinen Stil gefunden.
40 Jahre nach der Auflösung ist die Band so erfolgreich wie eh und je. Die einstigen Kontroversen haben sich in Luft aufgelöst. Der Erfolg hat im Lauf der Jahre sogar zugenommen. ABBA sind Kult, und gerade die Schweiz ist ein ausgesprochenes ABBA-Land. Das Album «ABBA Gold», das 1992, also zehn Jahre nach dem Ende, veröffentlicht wurde, ist mit über einer halben Million verkauften Exemplaren (weltweit 31 Millionen) das mit Abstand erfolgreichste Popalbum in der Geschichte der Schweizer Hitparade. Unglaubliche 625 Wochen ist es inzwischen platziert, in der aktuellen Hitparade auf Platz 48. Und ein Ende ist nicht abzusehen. ABBA forever and ever! (sk)
Diese Überraschungsmomente fehlen im neuen Album komplett. Die zehn Songs der mehrheitsfähigsten Band der Welt vermögen die Sehnsüchte von Millionen Fans rund um den Globus zu stillen. Gekonnt wird das musikalische Werk von ABBA rezykliert. «I Still Have Faith In Me» etwa bedient das Musicalhafte, «Bumble Bee» und «When You Danced With Me» das Folkloristische, «Ode To Freedom» das Hymnische und auf «Keep An Eye On Me» wird sogar das Piano-Intro zu «S.O.S.» zitiert. «Voyage» bietet aber keine neue Facetten.
ABBA war sowieso immer mehr als Musik. Die Band und ihre Mitglieder hatten ein Narrativ. Sie waren jung, modern, glücklich und erfolgreich. Die Paare Benny + Frida sowie Björn + Agnetha repräsentierten eine freundliche, charmante, attraktive, glückliche und intakte Familie. Mit ihrem positiven Image standen sie für ein bürgerliches Idealbild. Dazu hörte das Auge stets mit. Die optischen Reize vervollständigten das Gesamtkunstwerk und machten einen grossen Teil des Zaubers der Band aus. Das alles können die gealterten ABBA, die längst geschieden und heute alle über 70 Jahre alt sind, gar nicht mehr bieten.
Das wissen sie nur zu gut. Deshalb wird es kein Bühnen-Comeback geben. Deshalb werden Agnetha, Björn, Benny und Anni-Frid in der spektakulären Multimedia-Show, die ab Frühling 2022 in einer speziell gebauten «Abba-Arena» in London startet, von Avataren (ABBAtaren) vertreten. Digital programmierten Hologrammen, die aussehen wie die Musiker in der Blütezeit von ABBA. Also jung, schön und attraktiv. Es ist die perfekte Illusion der Pop-Perfektionisten.
Nein, um «Money, Money, Money» geht es hier nicht. Den perfekten Illusionisten geht es darum, das Unmögliche möglich zu machen. In dieser finalen Mission, in dieser letzten Reise ist «Voyage» nur ein Mittel, die Marketingmaschine anzukurbeln. Für die Illusion, die Zeit anzuhalten und ABBA unsterblich zu machen.
ABBA: Voyage (Universal).