«Gilberte de Courgenay» vertritt beste Schweizer Werte, die angesichts von heutigen beunruhigenden Nachrichten aus einer orientierungslos gewordenen Welt von beklemmender Aktualität sind.
Entstanden ist das Schweizer Volkslied vor hundert Jahren, also mitten im Ersten Weltkrieg, und wurde bald durch einen sehr aktiven Militärsänger überall in der Schweiz bekannt gemacht. Nur die ewigen Siebengescheiten mögen über dieses einfache, aber melodiöse und heiter-ironische Militärlied die Nase rümpfen. Doch sie sind im Unrecht.
Längst ist dieses Lied zum unverzichtbaren Volkskulturgut geworden und bleibt bis heute tief im kollektiven Gedächtnis der Schweiz verankert. Dazu gehört auch eine andere Qualität, die hervorzuheben ist: seine Zweisprachigkeit.
Es war im Winter 1915/1916, als die beiden Entlebucher Militärmusiker Robert Lustenberger und Oskar Portmann das Lied getextet (wie man heute sagt) und komponiert hatten. Hanns in der Gand, der Urner Barde mit polnischen Wurzeln, hatte nicht nur alte Schweizer Volksweisen gesammelt und dem Vergessen entrissen, sondern machte auch das neue Lied «Gilberte de Courgenay» im Laufe des Jahres 1916 überall in der Schweizer Armee bekannt.
Bald wurde es aber auch von der Zivilbevölkerung übernommen und gerne gesungen. Natürlich auch in Courgenay selbst, im Hôtel de la Gare, das von Gilbertes Eltern geführt wurde und während des Kriegs ein Militärstützpunkt war. Die junge Frau half tatkräftig im Betrieb mit und hatte wohl mehr als einem Offizier oder Soldaten den Kopf verdreht.
Das Lied, das wir ja alle kennen, hat eine eingängige und gut singbare Melodie. Das Besondere aber ist die bereits erwähnte Zweisprachigkeit des Textes. Die Couplets sind auf Deutsch verfasst, der Refrain («C’est la petite Gilberte ...») auf Französisch. Das ist einzigartig, denn damit verbindet es die welsche und die deutsche Schweiz und stärkt die Zusammengehörigkeit unserer unterschiedlichen Sprachregionen und Landesteile.
In den 1930er- und 1940er-Jahren bekam das Lied nochmals eine grosse Bedeutung. Es wurde Teil der geistigen Landesverteidigung und trug dazu bei, unsere Identität und unseren Wehrwillen zu stärken. Aus dem Lied entstanden ein Roman und zwei Theaterstücke. Sie sind heute vergessen, nicht aber der Film von Franz Schnyder aus dem Jahr 1941. Er ist künstlerisch unbedeutend, aber trotzdem ein schönes Dokument des damaligen Schweizer Filmschaffens.
Der Film bleibt deshalb unvergessen, weil die unvergleichliche Anne-Marie Blanc eine bezaubernde Gilberte spielte, die nicht nur die Soldaten im Film, sondern auch das Publikum in den Kinosälen hoffnungslos betört hatte!
Heute hat dieses Lied nichts von seiner Aktualität eingebüsst. In einer Zeit, in der unsere humanistischen und abendländischen Werte von religiösen Fundamentalisten untergraben werden, ist eine Rückbesinnung auf unsere ureigenen schweizerischen Werte bitter nötig. In einer Welt, in der die Weigerung des Handschlags aus patriarchalisch-religiösen Gründen für eine Frau mit Recht als unerhört empfunden wird, täte es auch den Behörden gut, wieder einmal auf unsere eigenen Sitten, Bräuche und Gepflogenheiten hinzuweisen. Vielleicht braucht es eine neue Art geistiger Landesverteidigung. Toleranz wirkt dann heuchlerisch und pervers, wenn sie von Intoleranten eingefordert wird.
Ich weiss, dass heute viele Chöre die populären Rock- und Popsongs ins Repertoire aufgenommen haben und gerne singen. Wie wäre es aber, auch vermehrt wieder einmal das einheimische Liedgut zu pflegen? Es müssen nicht immer «Alperose» oder ein Lied von Mani Matter sein. Auch «Gilberte de Courgenay» und andere alte Volksweisen wären dazu ideal. Das Lied strömt einen freiheitlichen republikanischen Patriotismus mit einem gewissen Schalk und Augenzwinkern aus. Es wirkt auch heute noch so frisch wie vor hundert Jahren und enthält nie diese von heiligen Schauern triefende Heimattümelei.
Dieser «echt demokratische Patriotismus der Citoyennes und Citoyens», wie ich ihn bezeichnen möchte, gehört so selbstverständlich zur Schweiz wie die Alpenwelt und die kostbare Viersprachigkeit unseres Landes. Oder wie das Schulhausglöcklein meines Dorfes.
Thomas Schweizer war früher Lehrer am Gymnasium Bäumlihof und an der OS in Basel. Heute ist er als Autor und Kolumnist über Land und Leute unserer Region tätig.