Von Tätern und Mittätern erzählt Karl Rühmann in seinen Romanen. In «Die Wahrheit, vielleicht» berichtet ein melancholischer Verhörspezialist und Dolmetscher auf drei Zeitebenen. Gespräche führt er nur mit der traurigen Mona Lisa im Kunsthaus Zürich.
Sie lächelt ihm mal wehmütig, mal spöttisch zu, diese junge Frau aus dem niederländischen 17. Jahrhundert – mit schielendem Auge, schwerem Kleid und enger Perlenkette. Es sind wunderbar zart beschriebene Begegnungen. Der Ich-Erzähler Felipe ten Holt im neuen Roman von Karl Rühmann nennt sie wegen ihres unergründlichen Lächelns «meine traurige Mona Lisa». Sie ist ihm stumme Gefährtin seiner Vereinsamung, Vertrauensperson und Zuflucht nach belastender Dolmetscherarbeit für zerstrittene Ehepaare, verzweifelte Demente, lügende Flüchtlinge und Kriegstraumatisierte.
Das Gemälde «Bildnis einer jungen Frau» von Johannes Cornelisz Verspronck hängt im Kunsthaus Zürich. Wenn Karl Rühmann seinen Erzähler immer wieder zu ihr führt, nimmt er eine literarische Tradition auf: Ein obsessives Verhältnis zu einem Gemälde findet man nicht nur in Oscar Wildes Doppelgänger-Porträt in «Das Bildnis des Dorian Gray» oder in Dan Browns Rätsel-Mona-Lisa in «Der Da Vinci Code». Auch Thomas Bernhard hat im Roman «Alte Meister» einen Mann immer wieder vor dasselbe Gemälde gesetzt. Kunst ist ihm das Höchste, aber auch Ernüchterndste: «Wir können uns noch so viele grosse Geister und noch so viele Alte Meister als Gefährten genommen haben, sie ersetzen keinen Menschen», sagt jener alte, nach dem Tod seiner Frau verzweifelte Mann in Bernhards Roman.
Das Vergebliche im Trost mag auch Rühmanns Erzähler empfinden, wenn er im offenen Ende des Buches Abschied von seiner «traurigen Mona Lisa» nimmt. Darin kulminiert die emotionale Spannung dieses virtuosen Romans. Ob das für Felipe ten Holt ein Abschied von seiner obsessiven, schuldbeladenen Suche nach der Wahrheit ist oder ein Abschied von seiner emotionalen Immunisierung, lässt Rühmann geschickt offen.
In Kroatien aufgewachsen, nach dem Sprachstudium Dienst in einer Antiterroreinheit der jugoslawischen Volksarmee: Der in Zürich lebende, 63-jährige Schriftsteller und Übersetzer Karl Rühmann ist nicht nur ein literarisch hochbewusster Autor, er kennt sich auch bei seinen Themen und Figuren exzellent aus. Auffällig war das schon beim 2020 für den Schweizer Buchpreis nominierten Briefroman «Der Held». Darin sezierte er den selbstgefälligen Zynismus von kroatischen und serbischen Kriegsverbrechern. Im neuen Roman «Die Wahrheit, vielleicht» tritt ein ehemaliger Verhörspezialist als Ich-Erzähler auf. In beiden Romanen setzt Rühmann zudem eine Frau als Gewissen in Szene: In «Der Held» eine aufmüpfige Kriegswitwe, in «Die Wahrheit, vielleicht» das stumme, für den Erzähler jedoch beredte Gemälde.
Einen Thriller darf man aber nicht erwarten, auch wenn Rühmann eine Spur Suspense in seine Dramaturgie einbaut. Denn bald ahnt man, dass dem Erzähler vor Jahren ein Verhör mit einer Terrorverdächtigen zum Verhängnis geworden ist. Dieser Felipe ten Holt begegnet uns vielmehr als Melancholiker. Als einer, der sich die Neutralität in seiner Arbeit als Übersetzer erzwingen muss: durch Pünktlichkeit, Effizienz und gespielter Gleichgültigkeit. Er schleppt seine missratene Kindheit und sein Versagen in einer Antiterroreinheit mit sich herum. In seiner jetzigen Arbeit als Dolmetscher sucht er inneren Frieden. Das gelingt ihm natürlich nicht: «Mein Hass ist nicht gestillt.»
Verhörstrategien und Fragetechniken bilden einen Strang, Rückblicke in Felipe ten Holts Kindheit einen zweiten und die Gegenwart mit der Dolmetscherarbeit einen dritten. Rühmann führt alle drei Stränge nebeneinander, bis man als Leser erkennt, dass sie sich ineinander spiegeln. Dass sich ten Holts traumatische Kindheit als Sohn eines Mädchenschänders und Selbstmörders in den Schicksalen wiederholt, die er nun übersetzen muss. Oder dass sich die frühere Schuld eines nicht verhinderten Terroranschlags auch nicht wiedergutmachen lässt, indem er in eine Befragung auf dem Sozialamt eingreift.
Diese Zusammenführung ist clever gemacht. In den Rückblenden in ten Holts Kindheit sieht man zudem Rühmanns literarische Souveränität als routinierter Kinderbuchschreiber, der die widersprüchlichen Gefühle des verstockten Jungen glänzend in Szene setzt. Das montageartige Nebeneinanderstellen der Zeitebenen macht das Buch zum modernen, anspruchsvollen Roman. Und dass man hier einen Autor hat, der kenntnisreich aus Täterperspektive Romane schreibt, ist ohnehin ein Glücksfall.
An einer falschen Erzählkonvention hingegen hängt Rühmann, wenn er den Erzählstrang von ten Holts Kindheit über sein Studium bis zum Verhörspezialisten ausdehnt. Das ist überflüssig, gerät mit blassen Nebenfiguren langfädig. An manchen Ecken wirkt die Geschichte auch überorchestriert: Etwa wenn ten Holts Mutter wegen einem Sturz auf den Kopf zum Psychiatriefall wird, oder wenn er mit der Ex-Geliebten seines Stiefvaters eine platonische Freundschaft schliesst. Lieber hätte man mehr Szenisches aus dem konkreten Verhör mit der Terrorverdächtigen gelesen. Rühmann handelt diesen Erzählstrang mit Gesprächen mit dem Supervisor ab.
Fabelhaft jedoch sind jene Szenen, in welchen offenbar Rühmanns eigene Dolmetschererfahrungen eingeflossen sind. Wie Felipe ten Holt mit geschärften Sinnen die Stimmen und die Körpersprache der Befragten und die Atmosphäre in Spitälern und auf dem Sozialamt wahrnimmt, ist unheimlich präzis. Hilflos, voller Scham und Zorn, in Verzweiflung gefangen oder mit durchschaubarer Fassade: Es ist ein Panoptikum aktueller Lebensverheerungen. «Ein Held ist, wer sich der Wahrheit stellt» – das war Rühmanns Credo im Vorgängerroman «Der Held». Sein neuer Roman zeigt: Es bleibt unlösbar.
Karl Rühmann: Die Wahrheit, vielleicht. Roman. Rüffer&Rub, 223 S.