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Gleich zwei Schweizer Comicromane für Erwachsene erleben den Ritterschlag der Hochkultur. Simone F. Baumanns Debüt «Zwang» und Jan Bachmanns «Der Kaiser im Exil» sind an die Solothurner Literaturtage eingeladen. Höchste Zeit für ein Loblied auf das Genre.
Der Comic für Erwachsene ist wie das Aschenputtel im Königreich des Romans: Stiefschwester in der bürgerlichen Hochkultur. Man sollte sie würdig vergolden. Wobei: Die Existenz in der kohlestaubigen Nische ist dem Genre nicht schlecht bekommen. Fern des literarischen Mainstreams erfinden originelle Spötter, coole Ästhetinnen, Geschichtsfreaks und schrille Fantastinnen das Genre auch formal immer wieder neu. Neben konventionell erzählten Biografien oder Romanadaptionen fallen diesen Frühling gleich zwei Schweizer Neuerscheinungen auf.
Erst einer kleinen Fangemeinde bekannt ist die 24-jährige Zürcher Zeichnerin Simone F. Baumann. Ihr bisheriges Medium sind Fanzines, dünne, selbstvermarktete Comic-Broschüren. In der Graphic-Novel-Szene sind die von Hand zu Hand weitergereichten Hefte sehr beliebt und der erste Schritt zu einem «richtigen» Buch. Die Szene ist klein, der Zürcher Verlag Edition Moderne war schon länger auf die Zeichnerin aufmerksam geworden.
Man darf dem Verlag gratulieren, dass nun aus den düster-psychotischen Kurzgeschichten von Simone F. Baumann ein gewichtiges Buch geworden ist. Denn die erzählerische Prägnanz und die konsequente Umsetzung von psychischen Alarmzuständen in Körperbilder bewirken einen faszinierenden Sog.
Ihre Figur wird mal von ihren kannibalistischen Eltern aufgefressen, dann wächst ihr ein zweiter Kopf aus dem Rücken, verursachen Linien auf dem Gehweg neurotische Schübe, sie drückt sich zurück in den Bauch ihrer Mutter, ist mal kleptomanisch unterwegs, oder es kippt einmal ihr Kopf vom Rumpf und fällt auf die Strasse.
Baumanns Hauptfigur ist eine junge Zeichnerin, die gleich zu Beginn von einem Gericht «schuldig, schuldig, schuldig» gesprochen und in ein Loch gestossen wird. Ein Albtraum, mit dem Baumann ironisch zeigt, dass sie zwar völlig eigenständig, aber doch traditionsbewusst vorgeht. Da spielt sie mit Motiven aus der existenziellen Absurdität Franz Kafkas und der Traumwelt von Alice im Wunderland.
Gegen Ende fällt die Zeichnerin durch ein Loch in den Kopf eines weissen Kaninchens. Man darf es als Augenzwinkern der Zeichnerin verstehen: Das Kaninchen hat ja einst Alice in die Traumwelt gelockt. Man könnte auch noch Struwwelpeter-Motive mit abgeschnittenen Ohren erwähnen. Aber im Grunde liefert Baumann eine sehr persönliche und originelle Dramaturgie mit einer eindringlichen Thematik und radikalem Zeichenstil. Wie eine einsame Schlafwandlerin schleicht ihre Figur durch ihr Leben, wirkt in ihrer Verletzlichkeit so grotesk wie anrührend.
Völlig anders geht der 35-jährige Jan Bachmann ans Werk. Er widmet sich bereits mit dem dritten Buch der Zeit um 1900. Mit liebevollem Spott blickte er 2018 auf den Pazifisten und Anarchisten Erich Mühsam.
Der Band wurde breit besprochen und liegt in zweiter Auflage vor. Weil Bachmann ihn auf den schrulligen Poeten reduziert hat, gab es auch Kritik. Dass Mühsam später von den Nazis umgebracht worden ist, steht bloss im Nachwort. Bachmann jedoch hat es nicht auf chronologische Biografien abgesehen, sondern fokussiert satirisch auf prägnante Episoden. 2019 legte er mit der skurrilen Graphic Novel «Der Berg der nackten Wahrheiten» über die frühen Nudisten und Vegetarier auf dem Monté Verita nach.
Im Gegensatz dazu hat sich Bachmann in «Der Kaiser im Exil» einer Figur gewidmet, mit der er sich «natürlich weniger sympathisch verbunden» fühle: Der letzte deutsche Kaiser. Wilhelm II., von 1888 bis 1918 an der Macht, war besessen von der Idee eines Gross- und Kolonialreichs – ein Antisemit, der Deutschland in den Ersten Weltkrieg trieb. Bachmann beleuchtet dessen Exil in Holland nach seiner Abdankung 1918 und zeigt ihn als ignoranten, verbissenen Verschwörungsfanatiker. Statt seine Schuld an den Millionen Toten des Weltkriegs einzugestehen, jammert Wilhelm lieber über die Treulosigkeit seiner Landsleute und fantasiert über seine Rückkehr an die Macht.
Mit schrillen Farben und scharf gezeichneten, überdrehten Figuren erschafft Bachmann eine märchenhaft-gruselige Atmosphäre. Gegen den drohenden Zynismus bei diesem Thema setze er so ein «poetisches Aufrüsten als Selbstverteidigung». Das Geniale daran: Die Bilder wären auch ohne Text als Satire erkennbar. Symbolischer Höhepunkt ist Wilhelms exzessives Baumfällen: Innert kurzer Zeit soll er im Exil 11000 Bäume zersägt haben.
Jan Bachmann findet dafür gleich zu Beginn ein ebenso symbolisch aufgeladenes Bild, das wie ein hintergründiges Leitmotiv verstanden werden soll: Die Baumstümpfe mit blutroten Schnittflächen sind das Vermächtnis Wilhelms. Man muss kein Historiker sein, um darin stellvertretend die grauenhaften Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs zu sehen. Bäumen malt Bachmann deshalb Gesichter mit erschreckt aufgerissenen Mündern. Schützengräben braucht Bachmann darum gar keine zu zeichnen. Die schrill-bunte und märchenhaft anmutende Gestaltung läuft ein wenig Gefahr, historische Figuren zur blossen Schrulligkeit zu verniedlichen, sie nicht als Scheusale, sondern als tölpelhafte, dumme Witzfiguren zu sehen. Allerdings kann man wohl ein wenig Geschichtswissen der Leser voraussetzen.