Grosse Literatur, schmerzhaft aktuell: Prix-Goncourt-Gewinner Nicolas Mathieu fühlt der Tristesse französischer Industriestädte den Puls.
Dieser Roman «Wie später ihre Kinder» ist ein Meisterwerk. Dringlich bis zur Schmerzgrenze, mit einer über 440 Seiten anhaltenden Spannung und politischem Scharfsinn, ungeheuer illusionslos und gleichzeitig bildstark und zartfühlend geschrieben. Nicolas Mathieu hat für diesen Roman letztes Jahr den Prix Goncourt erhalten, den wichtigsten französischen Literaturpreis. «Wie später ihre Kinder», nun in hervorragender Übersetzung erhältlich, ist ein grosser Gesellschaftsroman über das Elend in der französischen Provinz. Damit überflügelt er literarisch haushoch den Pessimisten Michel Houellebecq, den stilistisch eintönigen Autor resignierter Zeitgenossen, der letztes Jahr allenthalben als Entdecker der Erniedrigten in der Provinz gefeiert worden ist. Denn Mathieu ist kein Zyniker und kann literarisch viel mehr: Wie er in die Zerrissenheit, in die Gedanken und Gefühle von Jungs und Mädchen, Männer und Frauen, in Unter- und Oberschichtmentalität schlüpft, ist grandios.
Weil die Geschichte in der realen nordostfranzösischen Kleinstadt Hayange spielt, ist Nicolas Mathieu auch ein explosiver Schlüsselroman gelungen. Darin entdeckt man wie durch eine Lupe den sozialen Zerfall, den Zorn gleich mehrerer Generationen: Es ist der Nährboden des Front National. Denn Hayange wurde hart vom Niedergang der Schwerindustrie getroffen. Seit 2014 regiert ein Bürgermeister des Front National, der einst kommunistischer Gewerkschafter war.
Nicolas Mathieu erzählt in vier Kapiteln je wenige Tage im Hochsommer. Die Stimmung ist angespannt und überhitzt. Er schaut in die Banlieue, ins kleine Arbeiterhäuschen, in die Villen der Oberschicht. Im Zweijahresabstand 1992, 1994, 1996, 1998 begegnen wir Jugendlichen voller Hoffnungen und Selbstzweifel, Vätern, die im Suff verkümmert, an der Staublunge krepiert oder in der Resignation politisch radikalisiert sind, Müttern, die in der Verbitterung über ihr vergeudetes Leben verwelken. Sie halten sich mit deprimierenden Teilzeitjobs knapp über Wasser, verstehen nicht, was mit ihnen geschieht. Am Ende fiebern alle dem WM-Titel der Franzosen entgegen, genährt von der Hoffnung, dass dieses Multikuli-Fussballteam die Zerrissenheit des Landes heilen könnte. Wie «Pflanzen auf einem Boden aus Wut» wachsen die Jugendlichen hier auf.
Aber Arbeitersohn und Schulversager Anthony ist 14 und denkt: Alles muss einmal anfangen, auch wenn er mit seinem schiefen Auge chancenlos, vorverurteilt scheint. Die Mädchen und die Flucht aus dieser Hölle der vererbten Enttäuschungen bestimmen sein Denken, seine Gefühle. Und das Motorrad, Bier und Marihuana, die Partys am nahen See. So geht es fast allen seiner Generation. Besonders seinem Rivalen, dem marokkanischen Migrantensohn und Kleindealer Hacine, der letztlich aber dem kleinbürgerlichen Albtraum auch nicht entkommt. Seine Brutalität nährt sich aus dem bitteren Gefühl des verachteten Aussenseiters. Jedem Kapitel steht ein passender Songtitel voran
Virtuos wechselt Mathieu die Stil- und Erzählebenen. Man hat mal einen fiebrigen Jugendroman vor sich, dann eine in kurzen Passagen soziologisch präzise Analyse, ein Gesellschaftstableau, ein Rachedrama und mehrere Liebesgeschichten. Bei aller Härte staunt man über die bildreiche, poetische Sprache. Da spiegelt die «bleierne Sonne» und der «See wie dickes Öl» die überspannte, jugendliche Empfindlichkeit, das scharrende Geräusch eines Liegestuhls auf Kies steht für Zufriedenheit, Anthony fühlt sich in seiner Massigkeit «wie ein Steak.»
Mit dem wütend-resignativen Nirvana-Song «Smells like teen spirit» beginnt das Buch. Es stimmt perfekt ein auf das zerbrechliche, selbstzerstörerische Lebensgefühl von Anthony, Hacine und den anderen Jugendlichen. In allen Figuren schafft Mathieu eine schmerzhafte Ambivalenz, die hinter Rassismus, Alkoholismus, der Gewalt und dem Zynismus immer eine Verletzlichkeit und Angst, Scham und Sehnsucht, bittere Wut und Unfähigkeit zeigt, die ihnen selbst peinlich ist. So kommt einem jede Figur unheimlich nahe. Und wie Mathieu das Fiebrige der Stimmung auf den WM-Final hin steigert, ist eine Wucht.
Die Stadt wird sich am Ende ächzend ein wenig aufrappeln, genauso wie die Überlebenden dieser Misere. Etwa Steph, Anthonys Angehimmelte, mit der er wenigstens einmal besoffen vögeln konnte und der er nun ein Leben lang nachtrauert. Sie, die aus reichem Haus ihn nie als Freund hätte haben wollen, kämpft sich über durchgeweinte, verzweifelt einsame Studienjahre im hochnäsigen Paris aus der Provinz hinaus nach Kanada. Die meisten werden es nicht schaffen. So schmerzhaft illusionslos dieses Buch auch ist, so sehr man mit diesen Figuren mitleidet und ständig befürchtet, all die Diebstähle, Sauf- und Drogentouren, Schlägereien, gescheiterten Liebschaften würden in einem Massaker enden. Mathieu aber zeigt, dass all dies normaler Teil einer fiebrigen Zeit ist und dass seine Figuren letztlich an der «sanften Beklemmung, dazuzugehören» verkümmern. Existenzialistisch ist dies vielleicht sogar die grössere Strafe. Der logische Song zum letzten Kapitel, mit bitterem Beigeschmack serviert: «I will survive.»