Zumindest Frankreichs Wirtschaftsminister Bruno Le Maire erweckt den Eindruck, als wolle er aus dem jüngsten Roman seines Freundes Michel Houellebecq lernen.
Emmanuel Macron ist nur der eine Gewinner der französischen Präsidentschaftswahl vom Sonntag. Es gibt noch zwei weitere Sieger: Zum einen Marine Le Pen und ihr Rassemblement National. Sie erreichte gegen Macron bedeutend mehr Stimmen als bei der letzten Stichwahl. 41,5 Prozent wünschen sich Marine Le Pen im Elysée-Palast.
Zum anderen darf auch der Schriftsteller Michel Houellebecq frohlocken. Er hat in seinem jüngsten Roman «Vernichten» dargestellt, wohin Frankreich in den kommenden fünf Jahren politisch steuern könnte. Selbst wenn nicht alles eintreffen wird, was er in seinem Szenario entwirft, merkt man schon jetzt, dass einzelne führende Politiker in Frankreich sein Werk studiert haben und schon einiges unternehmen, um die in sie gesetzten Erwartungen nicht zu enttäuschen.
Geht es nach Houellebecq, wird Macron dauernd den Atem des Rassemblement National im Nacken spüren. Da er als Präsident kein drittes Mal hintereinander antreten darf, muss er im eigenen Lager starke und loyale Nachfolger aufbauen. Im Roman heisst diese rechte Hand des Präsidenten Bruno Juge.
Dessen reales Vorbild ist der aktuelle französische Wirtschaftsminister Bruno Le Maire, ein guter Freund von Houellebecq. Übrigens nicht sein einziger Freund unter den Schriftstellern: Auch mit Literaturnobelpreisträger Peter Handke oder mit der französischen Autorin Marie Darrieussecq liebt es Bruno Le Maire zu parlieren – ein Austausch zwischen Macht und Kultur, wie er, nebenbei gesagt, in der Schweiz unvorstellbar ist, und das liegt nicht an den Autorinnen und Autoren.
Kaum stand Macrons Wahlsieg fest, tauchte am Sonntagabend bereits Bruno Le Maire in der Menge auf und trat vor die Mikrofone, als wollte er das Bild korrigieren, das wir in Houellebecqs Roman von ihm gewonnen haben. Dort erscheint er anfangs zwar als brillanter Macher, aber er ist zu wenig volksnah. Diesem Klischee, er sei ein eher introvertierter oder gar abgehobener Technokrat, scheint der reale Bruno Le Maire nun entschieden entgegenzuarbeiten.
Am anderen Morgen ist er schon früh und perfekt frisiert in den Fernseh- und Radiostudios, um rhetorisch exzellent ein altes, während der Pandemie auf Eis gelegtes Vorhaben Macrons einzubringen: die höchst umstrittene Rentenreform. Bruno Le Maire packt also gleich nach der Wahl die heissen Eisen an.
Wenn Frankreich heute wieder wirtschaftlich besser dasteht, ist das sicher auch Le Maires Verdienst. Houellebecq wagt im Roman die Prognose, Frankreich steige mit seinem Wirtschaftsminister Le Maire an der Spitze gar zur fünftstärksten Wirtschaftsmacht dicht hinter Deutschland auf, auch wenn sich die Mittelklasse immer mehr pulverisiere und nur Privilegierte und Arme übrig bleiben würden.
Der wirkliche Bruno Le Maire verspricht nun vorsorglich, sich um die Abgehängten zu kümmern. Auch gegen den Klimawandel werde die neue Regierung mehr machen. Ändern werde sich ausserdem der Regierungsstil, die «façon de gouverner». So will man den Makel der Arroganz loswerden, der bis jetzt an Macron und seiner Regierung klebt.
Besonders Bruno Le Maire gibt, schon bevor er in seinem Amt bestätigt ist, alles, um zu jenem starken Mann aufzusteigen, zu dem ihn Michel Houellebecq bereits hochgeschrieben hat.
Dessen Roman erschien Anfang dieses Jahres. Am 24. Februar begann dann der russische Vernichtungskrieg gegen die Ukraine. Folglich ist davon im Buch nicht die Rede. Hellseher Houellebecq dürfte diese schlimme Wendung nicht gefallen, denn er trifft nun nicht mehr überall ins Schwarze.
Seinen Wirtschaftsminister im Roman macht Houellebecq zum protektionistischen Patrioten, der sich an europäische oder sonstige Richtlinien «so gut wie gar nicht» hält. Eine eigenwillige Auslegung von Le Maires bisheriger Wirtschaftspolitik. Was Houellebecq skizziert, entspricht eigentlich eher dem Parteiprogramm von Le Pen, und vielleicht war es Houellebecqs heimliches, diabolisches Ziel, Macrons Regierung und Le Pen einander anzugleichen.
Da kann man nur hoffen, dass sich der reale Macron und sein Wirtschaftsminister Bruno Le Maire in den kommenden Jahren von Houellebecs Romanvorlage politisch emanzipieren.