Im neuen Film des Schweizer Regisseurs Simon Jaquemet gerät das geregelte religiöse Leben eine Labortechnikerin aus der Bahn.
Vier Jahre nach seinem eindrucksvollen und mehrfach preisgekrönten Début «Chrieg» begibt sich der 40-jährige Basler Filmemacher Simon Jaquemet in eine trostlose Welt aus Vorstadt-Neubauten und anonymen Mehrzwecksälen, kalten Parkhäusern und düsteren Kellern. Dies ist die Welt von Ruth (Judith Hofmann), Mutter zweier jugendlicher Töchter, verheiratet mit dem streng- gläubigen Hanspeter (Christian Kaiser) und als Labortechnikerin tätig. Als sie eines Tages ihren ehemaligen Verlobten Andreas wiederzusehen glaubt, der einst nach einer umstrittenen Verurteilung für einen Raubmord ins Gefängnis ging, gerät ihr Alltag aus den Fugen. Erst muss sie sich im Gottesdienst ihrer Freikirche übergeben, dann zieht sie sich die Haut um die Fingernägel ab, und bald schon sitzt jener Andreas (Thomas Schüpbach) nachts auf dem Familiensofa. Oder hat sich Ruth dieses Wiedersehen nur eingebildet? Immer weiter verliert sie ihren Halt, zusehends zerrissen zwischen ihrem einstigen Leben und ihrem jetzigen, aber auch zwischen den rigiden Regeln ihres Glaubens und ihrer Arbeit, wo Kopftransplantationen an Affen vorgenommen werden, um auf lange Sicht der menschlichen Sterblichkeit ein Schnippchen zu schlagen.
Ruths Kontrollverlust eskaliert und findet auch dann kein Ende, als ihr der Priester der Glaubensgemeinschaft den Teufel austreiben will. Nervenzusammenbruch oder Glaubenskrise, Schizophrenie oder Besessenheit – Simon Jaquemet liefert keine einfachen Erklärungen für das, was mit seiner Protagonistin passiert, und auch die Frage, wo hier die Realität aufhört und die Wahnvorstellungen anfangen, wird nicht beantwortet. Das dürfte einige Zuschauer frustrieren, genau wie das langsame Erzähltempo und die den Film zu weiten Teilen durchziehende Dunkelheit ein am Hollywood-Mainstream geschultes Publikum auf die Probe stellen wird. Doch gerade in der Rätselhaftigkeit, in den surrealen Einsprengseln und der emotionalen Wucht liegt die grosse Stärke von Jaquemets Zweitwerk. Diese Wucht kommt vor allem dank der überragenden Hauptdarstellerin Judith Hofmann zustande. Ganz nah bleibt die Kamera zwei Stunden lang an ihr dran, um die Kinogänger mitzureissen in diesen Strudel des Wahnsinns.
Der Unschuldige (CH 2018) 114 Min. Jetzt im Kino.