Black Lives Matter erfährt in Westeuropa gewaltige Solidarität. Vorgänge in Osteuropa von geopolitischer Sprengkraft locken hingegen kaum jemanden vor die Haustür.
Wenn es um sensible Themen wie Gender, Diskriminierung, Diversität und Inklusion geht, schlagen die medialen Wogen verlässlich hoch. Verlage, die mit der Bewirtschaftung von Reizthemen ihr serbelndes Geschäft zu retten versuchen, treffen auf akademisch geschulte Aktivisten, die mit harten Bandagen gegen selbsternannte Konservative kämpfen.
In den sozialen Netzwerken prallen die Gegner wie in Gladiatorenarenen aufeinander. Die einen rufen «hypersensible Schneeflöckchen! Untergang des Abendlandes! Dekadenz! Intersektionale Feminazis!» Die anderen wittern noch hinter der simpelsten Sachfrage strukturelle Gewalt und systematische Diskriminierung.
Auffällig ist, dass in Europa oft eins zu eins Themen und Diskussionen aus den Vereinigten Staaten von Amerika übernommen werden. Ob Rassismustheorien, Hashtags oder Trendbegriffe wie «Wokeness» und «Intersektionalität» – sie stammen grösstenteils aus den akademisch-aktivistischen Kaderschmieden amerikanischer Eliteunis, NGOs und Medienhochburgen.
Geradezu krampfhaft versucht man, sie der hiesigen Realität aufzupfropfen. Doch die ist nun mal eine andere – sozial, politisch, kulturell, ökonomisch, ethnisch (was immer eine «Ethnie» auch sein mag).
So ist es, als spiele ein europäisches Laientheater das grosse amerikanische Gesellschaftsdrama nach. Auf einer viel zu kleinen Bühne, in schlecht sitzenden Kostümen. Das zeigt sich unter anderem daran, dass Black Lives Matter in Westeuropa gewaltige Solidarität erfährt, auch auf der Strasse. Vorgänge in Osteuropa von geopolitischer Sprengkraft hingegen locken kaum jemanden vor die Haustür.
Weil in Mediendebatten leise, differenzierte Stimmen wenig Resonanz finden, kommt es zu einer Sozialdarwinisierung des Diskurses. Viele Sensible und Introvertierte machen gar nicht erst mit, wenn Mediennarzissten ihre Thesen wie Hämmer auf das Eisen der Verhältnisse krachen lassen.
Sie ziehen sich aus den empörungsfixierten sozialen Netzwerken zurück, und sie schweigen in Teamsitzungen oder Seminaren, weil sie etwa im Kunststudium nicht als konservativ oder an Ingenieurschulen nicht als «woke» (auf übertriebene Weise politisch korrekt) gelten wollen.
So sehen manche linke Aktivisten auf wenig sensible Weise in allen Weissen Privilegierte. Aber waren sie schon mal in Osteuropa? Wissen sie, dass sich der Begriff «Sklave» von «Slawe» ableitet? Dass es wenig Sinn ergibt, eine gerechte Behandlung als «Privileg», also als Vorrecht, zu bezeichnen? Rechte Reaktionäre rufen derweil: Sprache, Gender, Identität, Sensibilität, alles nur Luxusprobleme!
Nun, man sollte ihnen entgegenhalten: Das ist doch toll – mehr Luxusprobleme für alle! Wollte man einer Generation, die in historisch einmaligem Wohlstand, Sicherheit und Freiheit aufgewachsen ist, vorwerfen, dass sie für andere Probleme sensibilisiert ist als frühere Generationen? Das wäre absurd.
Gerade Diversität ist zu vielversprechend, um sie polemisch auf Hypersensibilität zu reduzieren oder amerikanische «Campus Wars» nachzuspielen. Meine persönlichen Erfahrungen mit Diversität und Sensibilität als Hochschuldozent in Zürich und Posen, Polen, sind schlicht eines: divers.
Der überwiegende Teil meiner Studenten ist sensibilisiert für Diversity-Fragen, für Gender, Rassismus, Inklusion, aber auf differenzierte und undogmatische Weise. Wir sprechen offen über die Kehrseiten von Wokeness, Political Correctness und Identitätspolitik. Natürlich gibt es auch ein paar Dogmatiker und Gnostiker, die ihre Meinung absolut setzen, aber das gilt für jeden Bereich der Gesellschaft. Man sollte sie nicht mit der Mehrheit verwechseln.
Ein Problem sehe ich nicht in Diversität und gewachsener Sensibilität, die ich unterstütze. Sondern im «Wie» der Umsetzung. Diversity ist längst in den Machtzentren angelangt und wird instrumentalisiert, der Verweis auf Sensibilitäten kann als Allzweckwaffe genutzt werden. Hier gilt es, gegenzusteuern. Wo etwa Diversity-Benchmarks implementiert werden, weicht das freie, neugierige, offene Miteinander einer Logik der Konkurrenz – diese Institution da ist diverser als wir, wir müssen aufrüsten!
Wenn Sprache reguliert wird, um präventiv Ambivalenzen, Verletzungen und Missverständnisse auszuschliessen, dann sträuben sich mir meine liberalen, anarchischen und konservativen Nackenhaare gleichzeitig. Und wenn Unternehmen oder Organisationen in ihrer Selbstdarstellung Diversität verkitschen, weil sie Shitstorms und schlechte Presse fürchten, dann reduzieren sie Menschen auf «Token» – starre Repräsentanten von Hautfarbe, Religion, Geschlecht.
All das hat nichts mit Sensibilität zu tun. Sondern mit Servilität. Es geht auch nicht um Diversität. Sondern um die Konfektionierung und Vereinfältigung des Vielfältigen. Echte Diversität bedeutet, dass alle diverse Ansichten über sie haben und angstfrei gemäss diesen Ansichten leben können.
*Jörg Scheller ist ein deutscher Kunstwissenschafter, Journalist und Musiker. Er lehrt an der Zürcher Hochschule der Künste.