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Der Regisseur des erfolgreichsten Schweizer Films wird achtzig. Ein neues Buch erzählt die Geschichte seiner «Schweizermacher». Und im Sommer beginnt der Dreh zu «Die letzte Pointe», Rolf Lyssys neuer Komödie.
In Zürich Hottingen öffnet Rolf Lyssy nicht nur die Tür seiner Wohnung. Er gewährt auch Zutritt zu einem Lebensbuch voller Leidenschaft, Chuzpe und Dunkelheit, sobald wir im sonnendurchfluteten Wohnzimmer Platz genommen haben. Vom Revox-Tonturm grüsst eine Kleinskulptur von Groucho Marx. In einer Ecke steht ein Award für Lyssys Lebenswerk. In der anderen hängt ein früher Comensoli, ein Geschenk von Lyssys Produzenten nach «Ursula oder das unwerte Leben» (1966). Lyssy macht wöchentlich eine bis zwei Touren auf dem Rennvelo, rund sechzig Kilometer; im Winter montiert er das Gerät in der Waschküche auf dem Roller. Die Touren führen meist an Herrliberg vorbei, wo Lyssy seine Kindheit verbracht hatte.
Rolf Lyssy: Damals unschuldig, unspektakulär. Das hat sich gewaltig verändert. Trotzdem haben sich die Gerüche meiner Kindheit dort erhalten.
Sind Sie wahnsinnig? Mein erstes Rennvelo bekam ich als über Vierzigjähriger. Ich durfte es im Materiallager eines Co-Produzenten auswählen, nachdem er mit «Schweizermacher» gutes Geld verdient hatte. Philip Roth sagte einmal: «Das Alter ist ein Massaker.» Deshalb muss das Herz arbeiten, dann bleibt man auch wach. Ich kenne genug Leute, die an Gebrechlichkeit leiden – darauf habe ich keine Lust.
Sie sprechen meine Depression an, 1998, meine Finsternis. Ich bin dem Schicksal immer dankbar, bin ich damals dem Tod entronnen. Einige Freunde unter den Schweizer Filmregisseuren hatten nicht dieses Glück: Einer warf sich unter den Zug, ein Zweiter schnitt sich die Pulsadern auf ... Depression ist eine lebensgefährliche Krankheit.
Nein. Ich dachte, das muss ich nicht mehr haben.
Das ist schwierig zu sagen. Ich wusste zweierlei: Ich will so was nie mehr. Und so was hatte mal kommen müssen. Ich machte mir lang Gedanken, habe alles auch aufgeschrieben in einem Buch («Swiss Paradise» – die Red.) Ich war zeitlebens ein Zweifler. Als junger Mann war ich derart unsicher, dass ich nur höchst ungern allein in ein Restaurant trat – zum Teil ist das heute noch so. Ich tat mich schwer mit Entscheidungen, bei der Arbeit wie im Privatleben. Am Schluss stand ich vor dem Kleiderkasten und schaffte es nicht mehr, mich für ein Hemd zu entscheiden. Da fiel gewissermassen der Vorhang und schluckte alles Licht.
Jede Depression ist Teil des Einzelnen und nimmt von daher auch einen individuellen Verlauf, wenngleich sich manche Symptome ähneln. Darüber hinaus prägen natürlich auch die Geschichte, die Veranlagung, die Herkunft des Betroffenen die Krankheit. Das macht die Therapie für Ärzte nicht gerade einfach.
Rolf Lyssy wurde 1936 in Zürich geboren. Zusammen mit Thomas Koerfer, Kurt Gloor, Fredi M. Murer, Markus Imhoof und Daniel Schmid gilt Lyssy als einer der Begründer des «jungen» Deutschschweizer Films. Sein bekanntester Spielfilm ist «Schweizermacher», bis heute der grösste Schweizer Kassenschlager.
Das Werk ist – ebenfalls bis heute – ein «Schweizerspiegel». Grund genug, sich darüber in Buchform Gedanken zu machen. Über Thema und Wirkung des Films, aber auch, um wieder einmal tiefer in die DNA der Schweiz zu schauen.
Thomas Zaugg, Elisabeth Bronfen, Xavier Koller und die Herausgeber Georg Kohler und Felix Ghezzi schreiben über den Film und die Schweizer Identität. Die Thematik hat nichts an seiner Aktualität eingebüsst: Was macht die Schweiz bzw. den Schweizer oder eine Schweizerin aus? Das Buch ist angereichert mit persönlichen Anekdoten über den Film und Regisseur.
Lyssy ist Autodidakt. In der Schweiz gab es zu seiner Zeit noch keine Ausbildung zum Filmemacher. Ein Studium im Ausland war aus finanziellen Gründen nicht möglich. (Mad.)
Georg Kohler/Felix Ghezzi (Hg.) «Die Schweizermacher» – Und was die Schweiz ausmacht. 200 Seiten. Zahlreiche s/w-Abbildungen. Verlag Rüffer & Rub, Zürich, 2016.
Lese-Tour mit Talk Auftakt dafür ist am 5. März in Baden. Mit anschliessender Vorführung von «Kassettenliebe».
Heute sagt man häufig, die oder jene Krankheit sei genetisch bedingt. In den Grundmauern des Seins sind genetische Bausteine zweifellos vorhanden. Aber darauf kommt dann alles andere.
Eine berechtigte Frage. Zu meiner Mutter – sie führte tatsächlich ein verrücktes Leben – hatte ich mir wiederholt Gedanken gemacht. Das Thema war mir lange zu nahe und ist heute, bei mehr Abstand, kein Thema mehr. Aber eines muss man bei der ganzen Filmerei ständig bedenken: die Kosten! Ein Film über meine Mutter oder Grosseltern wäre ein historischer Film geworden – Riga, Vorkriegs-Frankfurt, Zürich in den Dreissigerjahren – so was kostet Millionen. Woher sollen dafür die Gelder kommen? In der Schweiz ist man gezwungen, Filme zu machen, die einen gewissen Budgetrahmen nicht überschreiten.
Jein. Meine Mutter erzählte davon – ja; sie war eine hervorragende Erzählerin. Ich war in Riga und suchte die Standorte, wo der Onkel meiner Mutter Bäckereien hatte. Aber erstens blieb Vieles fragmentarisch. Zweitens war ich auch stets mit Anderem beschäftigt. Andere wühlen in ihrer Familiengeschichte, drehen alles um, machen alles kaputt ... ich weiss. Ich fragte mich lange, ob die Geschichte meiner Mutter irgendjemanden interessieren könnte. Ich hatte Hemmungen, war vielleicht zu zurückhaltend, zu wenig skrupellos. Ich bedaure es auch sehr, mich mit meinem Vater nicht intensiver über sein Leben unterhalten zu haben. Man redete in jener Generation selten von eigenen Dingen. Es sollte einfach nicht sein.
In der Tat. Über Kuckuckskinder gibt es indes unzählige Filme; ich wäre bei weitem nicht der Erste gewesen. «Schweizermacher» war hingegen der erste Film zum Thema Einbürgerung, zumal der erste mit einem derartigen Erfolg.
Und von der Kritik schnöde abgefertigt. Sei’s drum: Der Film wurde inzwischen digitalisiert und kommt jetzt noch einmal in die Kinos. Er könnte durchaus wieder ein Publikum finden, das ihn anschauen möchte. So harmlos, wie einige Schweizer Filmkomödien der letzten zwanzig Jahre gewesen sind, ist er allemal. Aber mit guter Besetzung!
Weil ich Mitglied war des Fip-Fop-Klubs. Eine geniale Erfindung von Nestlé. Die zogen mit mobilen Filmprojektoren durchs Land. Im Saal des Herrliberger Hotels Raben sah ich dank Fip-Fop meine ersten Filme: Chaplin, «Heidi» mit Heinrich Gretler, «Bambi» und so weiter. Diese grossen Bilder – und danach für jedes Kind eine Tafel Schokolade! Wunderbar ging das rein, über Augen und Zunge.
Darauf kann ich Ihnen schon eine Antwort geben: Ich habe nie eine Monokultur betrieben, war nie ein Maniac gewesen. Zu sehr war ich vom Leben fasziniert. Ich erlebte das Leben wie einen realen Film, der mich häufig abhielt, etwas anderes parallel zu machen. Zu sehr liess ich mich ablenken durch andere Geschichten. Zum Beispiel von der Liebe. Immer war ich im Dilemma zwischen dem kreativen Schaffen und dem, was in der Realität anderes einfordert, vor allem auch Zeit. Es war stets ein Schwanken um die Frage: Was hat Priorität – eine Beziehung, die Ehe, Vater zu sein oder meine Filmarbeit? Ich habe mit 12 Jahren begonnen, Klavier zu spielen. Zuerst die üblichen Czerny-Etüden. Dann nur noch Boogie-Woogie, weil ich die Noten dazu von Walo Linder bekam, ein Freund der Familie und damals Unterhaltungschef von Radio Zürich. Die musikalische Begabung habe ich wahrscheinlich von meiner Mutter, die sehr gut Klavier spielte und auch sang, aber aus ihren Talenten leider nicht mehr gemacht hat.
Sicher, seit zehn Jahren schon, jeden Donnerstag, von November bis April.
Während der letzten zwölf Jahre machte ich Dokumentarfilme. Und habe jetzt wieder grosse Lust auf einen Spielfilm, obwohl ich nach meiner Depression beschlossen hatte: Ich schreibe nie mehr ein Spielfilmdrehbuch! Jetzt kann ich kaum darauf warten, bis es im Sommer endlich losgeht mit «Die letzte Pointe».
Eine gesunde 89-jährige Frau hat panische Angst, dement zu werden. Sie vergisst ein paar Dinge, verwechselt die Tage und Ähnliches. Die Frau beschliesst, mit einer Sterbehilfeorganisation aus dem Leben zu treten. Niemand von ihrer Familie darf davon erfahren. In Vorbereitung darauf verliebt sie sich in einen Mann, den Sie mal auf einer Partnerbörse im Internet gefunden hatte, ohne sich jedoch erinnern zu können, ihm damals geschrieben zu haben.
Es gibt nichts Schwierigeres – schlicht und ergreifend. Trotzdem werden Sie als Komödienautor immer auf Kindergartenstufe behandelt, wie Woody Allen einmal bemerkte.
Es ist das Mittelmässige in diesem Land, das einem bisweilen zermürbt. Das können Sie auf vieles übertragen, im Speziellen aber auf den Film. Es gibt schlicht zu viele mittelmässige Filme, die keine Voraussetzungen mitbringen, auf der Leinwand zu bestehen. Für die Erfahrung, wer wir sind, was wir unter Umständen auch nicht sind, ist der Kinofilm absolut essenziell, ein wichtiger Spiegel unserer Gesellschaft. Also gibt’s nur eins: Man muss sich an den Besten des Fachs orientieren. Auf den Film übertragen, wage ich den Vergleich zu Dänemark, Schweden, Holland, Belgien; da ist die Mentalität anders. Die kulturelle Saturiertheit hierzulande beruht auf Wohlstand, historisch darauf, dass wir nie einen Hochadel kannten. Geografisch ist er ausserdem dem Mangel geschuldet, nicht ans Meer zu stossen. Wir haben hohe Berge ...
Wir sind noch immer ein Bauernland, während ich mich als urbanen Menschen verstehe, als Filmemacher aus Zürich, der grössten Schweizer Stadt.
Natürlich. Die Schwierigkeiten beginnen nur schon dort, wo man Filmförderungs-Kommissionen politisch paritätisch zusammensetzt aus Leuten aller Landesteile.
Eben. In den USA gibt’s auch Filmklüngel oder -cliquen, aber viel mehr an der Zahl, verteilt auf einen Kontinent mit 350 Millionen Einwohnern! Hollywood mit seinen Majors und Investoren ist bei weitem nicht der einzige Hotspot für Film. Interessanter sind für uns die Vergleiche z. B. zu Schweden und Dänemark. In Dänemark gibt’s keine Kommissionen wie bei uns, die anonym abstimmen, sondern Intendanten, die zusammen mit Drehbuch-Lektoren sehr intensiv mit den Machern ein Filmprojekt besprechen, bevor das Geld gesprochen wird. Für Film ist hierzulande durchaus Geld vorhanden. Und der Kuchen, um dieses Geld zu verteilen, ist gleichzeitig erheblich grösser geworden. Nun erträgt das Filmemachen zwar vieles, aber eines nicht: basisdemokratische Entscheidungen.
Im Gegenteil. Weil die ganze Post-Produktion teurer geworden ist. Man täusche sich nicht, nur weil man hört, dass mittlerweile Kinofilme mit dem Handy gemacht würden. Gerade weil es früher technisch schwieriger war, z. B. grosse, unhandliche, schwere Kameras und Scheinwerfer, musste man sich im Vorfeld alles genau überlegen; jeder Meter Film kostete Geld! Heute besteht das Aufnahmematerial aus einen Chip. Das verführt dann dazu, dass man zuerst dreht und dann nachdenkt, anstatt umgekehrt. Etwas hat sich jedoch um kein Jota verändert: Der einzelne Mensch, der an der Kinokasse ein Billett löst, um für zwei Stunden in eine andere Welt zu gelangen. Dieser Mensch will mit gutem Gefühl wieder aus dem Kino treten; das gilt nicht nur für Publikumsrenner. Wenn die zwei Stunden vom Film nicht einfach totgeschlagen worden sind, dann ist das ein gutes Gefühl. Daran wird sich immer noch jeder Kinofilm messen lassen müssen.