Der Zürcher Regisseur und Drehbuchautor Peter Luisi hat einen hoffnungsvollen Film über zwei suchtkranke Menschen geschaffen.
Der schwer alkoholabhängige Josef (Fabian Krüger) lebt allein im Zweifamilienhaus seiner verstorbenen Mutter. Als seine Halbschwester Karin (Anne Haug) mit der vierjährigen Tochter Nina einzieht, verbringt Josef immer mehr Zeit mit seiner Nichte. Die beiden spielen etwa Ritter und Prinzessin im Garten. Bis Josef einen Unfall verschuldet und Nina nicht mehr sehen darf. 35 Jahre später erfährt Josef (Matthias Habich) an der Beerdigung seiner Schwester, dass Nina (Johanna Bantzer) drogensüchtig ist und in der Ukraine im Gefängnis sitzt.
Sie sind bekannt für Komödien wie «Verflixt verliebt», «Der Sandmann» oder «Flitzer». Woher kommt diese dramatische Geschichte?
Peter Luisi: Als Geschichtenerzähler habe ich nicht bewusst entschieden, dass es diesmal ein Drama sein soll. Einen Film zu machen, ist ein langwieriger Prozess – ich habe 2018 oder sogar früher mit dem Drehbuch begonnen. Deshalb muss es eine Geschichte sein, die einen nicht zu schnell langweilt. An deren Anfang steht die Beobachtung kleiner Kinder. Sie sind neugierig und lebensfroh. Ich stelle die vierjährige Nina dem 47-jährigen Josef gegenüber, jemandem, der aufgegeben hat. Diese beiden Energien wollte ich zusammenbringen.
Josef ist alkoholabhängig. Aber anders als die Erwachsenen, begegnet ihm Nina ohne Vorurteile.
Ja, es war mir ein Anliegen, dass das Mädchen im ersten Teil der Geschichte wirklich jung ist. Ein Kind in einem Alter, in dem es seiner Umgebung noch weitgehend unvoreingenommen begegnet. Nina sieht Josef als Menschen, nicht als Alkoholiker. Wichtig für sie ist, dass ihr Onkel sich Zeit für sie nimmt, mit ihr spielt. Er ist lustig und hat sie gern. Erst, als er von Nina getrennt wird, gelangt er zur Einsicht, dass er nicht wegen sich selbst auf der Welt ist, sondern um für andere da zu sein, und kehrt zu seiner Familie zurück. Daraus, sich nicht länger nutzlos zu fühlen, zieht er die Kraft, seine Alkoholsucht zu überwinden.
Was steht im Vordergrund: das Thema Sucht oder menschliche Beziehungen?
Wie in jedem Film, glaube ich, sind es die menschlichen Beziehungen. Aber es ist die Sucht, die die beiden Menschen verbindet. Der Film soll die Auseinandersetzung mit dem schwierigen Thema der Sucht ermöglichen und dabei den Menschen ins Zentrum stellen. Es ist eine Geschichte über Nina und Josef, die nach dem Zeitsprung nahtlos weitergeht. Josef hat Nina versprochen, immer für sie da zu sein.
35 Jahre später haben sich die Rollen verkehrt. Wieso dieser grosse Zeitsprung?
«Liebe kann man nur über Zeit beweisen.» Diesen Spruch habe ich einmal irgendwo gehört. Er ist mir geblieben. Dadurch, dass so viel Zeit vergangen ist, bekommt Josefs Versprechen noch viel mehr Gewicht. Nina ist nicht mehr das aufgeweckte kleine Mädchen. Sie ist eine randständige Person, die wenig Dankbarkeit zeigt und vor allem mit ihrer Sucht beschäftigt ist. Josef sieht trotzdem den Menschen.
Es geht also darum, dass man immer den Menschen sieht?
Wenn ich Heroinsüchtigen begegne, ein Schatten ihrer selbst, macht mich das unglaublich traurig. Andererseits habe ich selbst auch Schwierigkeiten, Empathie aufzubringen. Deshalb wollte ich diese Zweiteilung. Bei Nina als Kind geht jedem das Herz auf. Aber die erwachsene Nina ist immer noch der gleiche Mensch. Es geht um die Frage, wie man einem solchen Menschen Empathie entgegenbringt.
«Prinzessin» fängt als Familiendrama an, mündet im zweiten Teil in einen Krimi mit Thrillerelementen und schliesslich in ein Roadmovie. Immer aber ist der Film ein einfühlsames Drama, getragen von einem wunderbaren Schauspielensemble. Sowohl Matthias Habich und Johanna Bantzer als auch Fabian Krüger und Lia Hahne transportieren im Zusammenspiel eine glaubwürdige und emotionale Chemie. So kann sich das Publikum über das Hauptthema des Films – Empathie – mit den Figuren identifizieren. Wie Sucht entsteht, wird zwar nur am Rand, aber zu plakativ abgehandelt. Und die Ukraine als Schauplatz wirkt etwas an den Haaren herbeigezogen. Das fällt aber tatsächlich nicht gross ins Gewicht. (reg)
Dieser alte Josef hilft, weil er es versprochen hat. Geht es auch darum, nie die Hoffnung aufzugeben für einen von Sucht betroffenen Menschen?
Ja. Er hilft ihr, obwohl er nichts hat. Kein Geld, keine besonderen Fähigkeiten, und er ist alt. Eigentlich erwartet niemand mehr etwas von ihm. Trotzdem macht er, was er kann.
Als der Platzspitz geräumt wurde, waren Sie siebzehn Jahre alt. Haben Sie eigene Erfahrungen mit Drogen und Sucht gemacht?
Ich selbst nicht, aber ich kann mir vorstellen, wie man in eine Abhängigkeit hineinrutschen kann. In meinem näheren Umfeld gibt es zum Glück niemanden. Der Zerfall, wie suchtkranke Menschen sich immer weiter von sich entfernen, macht Angst und bricht mir das Herz. Opiate und Benzodiazepine erlebten in den vergangenen Jahren in vielen Ländern ein trauriges Revival. Die Problematik der Sucht bleibt aktuell und allgegenwärtig. Alkohol ist das in der Schweiz am weitesten verbreitete Suchtmittel; etwa 300000 Menschen werden als alkoholkrank eingestuft.
Wie haben Sie sich beim Schreiben des Drehbuchs in suchtkranke Menschen hineinversetzt?
Ich habe mit zahlreichen Fachpersonen und vielen Alkoholkranken geredet. Ich sehe mich als Filmemacher in der Verantwortung, hier genau zu sein.
Was war das Entscheidendste, was Sie aus diesen Gesprächen mitgenommen haben?
Es ist mir bewusst geworden, dass Sucht eine Krankheit ist und es wenig mit Willensstärke zu tun hat, ob man davon loskommt. Häufig heisst es doch, Süchtige sollten sich zusammenreissen und sie seien selbst schuld. Dass sie eben krank sind und nicht einfach disziplinlos, macht für mich deutlich mehr Sinn.
Sie bezeichnen den Film als «modernes Märchen». Wieso? Für mich hat der Film nichts Märchenhaftes.
Das bezieht sich darauf, wie Josef und Nina im ersten Teil Ritter und Prinzessin spielen. Er besiegt für seine kleine Prinzessin Nina den bösen Drachen. Im zweiten Teil rettet der Ritter seine Prinzessin.
Dafür fährt Josef in die Ukraine. Weshalb haben Sie diesen Schauplatz gewählt?
Ich war Jurymitglied bei einem Filmfestival in Kiew und habe dort einen Produzenten kennen gelernt. Ich bekam Einblick in die dortige Filmindustrie – allein in Kiew werden mehr Filme produziert als in der ganzen Schweiz. Entscheidend aber war, dass ich die Aufgabe für Josef so schwierig wie möglich machen wollte. Dass er sich im Separatistengebiet in der Ukraine durchschlagen muss, macht es spannend und hebt seinen unbedingten Willen hervor.
«Prinzessin» (Schweiz/Ukraine 2021), 101 Minuten, ab 27. Januar im Kino.