«La mif» bedeutet Familie. Und ist der Titel dieses brillanten Spielfilms über ein Jugendheim, in dem sogar die Heimleiterin echt ist.
Lora entscheidet sich für die Wahrheit. Die Frau, die über Sechzig ist, verrät den jungen Frauen, mit welchen sie um ein Lagerfeuer sitzt und «Tat oder Wahrheit» spielt, ihr dunkles Geheimnis. Ausgerechnet sie, die erfahrene Heimleiterin und empathische Zuhörerin, Beraterin und Stütze für die Mädchen, die das Heim ihr Zuhause nennen, sie hat privat versagt. Ihre eigene Tochter im Stich gelassen.
Was genau Loras dunkles Geheimnis ist, davon handelt die Schlüsselszene im Film «La mif» des Westschweizer Regisseurs Fred Baillif. Die Mädchen und die Frau, allesamt Laiendarstellerinnen, bilden darin eine verschworene Schicksalsgemeinschaft.
Nach dem Dreh der oben beschriebenen Szene fragten die Mädchen Claudia Grob, die Darstellerin von Heimleiterin Lora: «Krass, das haben wir nicht gewusst. Warum hast du nie etwas erzählt?» Sichtlich betroffen seien die Mädchen gewesen, erzählt Claudia Grob in breitem Ostschweizer Dialekt beim Treffen mit dieser Zeitung in einem Neuenburger Bistro. Die gebürtige St. Gallerin verbrachte ihr gesamtes berufliches Leben in ihrer Wahlheimat Genf.
«Für einen Augenblick haben die Mädchen vergessen, dass ich die Rolle bloss spielte, dass ich dieses Geheimnis gar nicht mit mir trage.»
In diesem Erlebnis spiegelt sich der Prozess wieder, der nach einem 12-tägigen Dreh zum Produkt «La mif» geführt hat. Regisseur Baillif dachte sich die groben Linien seiner Geschichte aus. Um sie zu erzählen, liess er seine Protagonistinnen – es sind vorwiegend Frauen, die diesen Film tragen – in voneinander isoliert gedrehten Szenen improvisieren. Die Mädchen haben Heimerfahrung, Claudia Grob war langjährige Direktorin mehrerer Genfer Jugendheime, die Erzieher und Erzieherinnen im Film spielen bis auf wenige Ausnahmen sich selbst. «Die Geschichte ist zwar erfunden, unsere Emotionen aber sind echt», sagt Claudia Grob.
«La mif» gewann letztes Jahr einen Hauptpreis des Zürcher Filmfestivals ZFF, für den Schweizer Filmpreis 2022, der Ende März vergeben wird, ist der Film gleich sechsfach nominiert. Und das zu Recht, der Film ist nach «Olga» über eine ukrainische Turnerin im Schweizer Exil im Umfeld der Euromaidan-Proteste das Schweizer Filmereignis des Jahres.
«Olga» läuft immer noch im Kino und man kann gar nicht genug betonen, wie aktuell der Film in der Zwischenzeit geworden ist. «La mif» startet am Donnerstag im Kino und behandelt ein nicht ganz so brandaktuelles Thema, doch der Film ist von grösster Relevanz. Er thematisiert Fragen wie diese: Wie wachsen Heimkinder im 21. Jahrhundert auf? Wie umgehen mit sexuellen Erfahrungen, welche die Jugendlichen machen? Wo liegen die Grenzen, ab wann kommt Repression ins Spiel?
Lora ist die Hauptprotagonistin, als roter Faden folgt die Geschichte ihr, nachdem sie nach einem Krankheitsausfall ins Heim zurückkehrt. Die einzelnen Kapitel tragen die Namen der jugendlichen Bewohnerinnen, und sie erzählen knapp deren Geschichte, ohne ins Detail zu gehen. Der Voyeurismus des Publikums lechzt nach mehr, der Film aber legt seinen Fokus auf etwas anderes. Wie gehen die Jugendlichen mit dem Erlebten, ihrer Wut und Unsicherheit um? Es kommt mitunter zu turbulenten Szenen, wüsten Schimpftiraden bis hin zu einem Einsatz der von einer Praktikantin herbeigerufenen Polizei. Aus Sicht von Lora war der Polizeialarm zu voreilig.
Die echte Heimleiterin, Lora-Darstellerin Claudia Grob, erzählt, was es damit auf sich hat. Sie selbst fand es immer eine Gratwanderung, wie mit sexuellen Verhältnissen zwischen Heimkindern umzugehen ist, insbesondere wenn der Altersunterschied strafrechtlich zum Problem wurde. «Mir war es stets ein Anliegen, den Jugendlichen zuerst in aller Ruhe zu sagen, es ist nichts Kriminelles. Und trotzdem mussten wir die Polizei rufen», sagt Claudia Grob. Wie viel von ihr steckt also in Lora? «Viel, ich schöpfte aus echten Gefühlen, meinen echten Überzeugen.»
Hätte man diesen Film auch mit echten Schauspielern drehen können? Wahrscheinlich, er wäre aber wohl halb so authentisch. Denn das ist der springende Punkt bei «La mif». Selbst für die Darstellerinnen verschwommen Fiktion und Realität während des Drehs. Die Mädchen verbanden das Schicksal der Figur Lora mit demjenigen von Claudia Grob, der echten Heimdirektorin. Claudia Grob machte während des Drehs ähnliche Erfahrungen und musste sich immer wieder sagen «es ist ja ein Spielfilm».
Nun holt sie der Erfolg von «La mif» – der Film sorgte international für Aufsehen – ein. Als eine der jungen Frauen realisierte, dass der Film auch in ihrer Heimatstadt Lausanne gespielt würde, fiel sie aus allen Wolken. «Genf war ihr egal, da kannte sie niemanden, London, New York, egal», sagt Claudia Grob. «Aber dass ihre Darbietung ihre Freunde und Verwandten zu sehen kriegten, dieser Gedanke war ihr sehr unangenehm.» Die Mädchen trauen dem Film nicht. Er ist so gut, dass das Gespielte auf die echten Personen zurückzufallen droht. So, wie bei Claudia Grob, die, anders als Lora, im Reinen mit ihrer Tochter und sich selbst ist.
«La mif» (CH 2021, 112 Min.); Regie: Fred Baillif, ab Donnerstag im Kino.