Die zerrissene Jesidin zwischen Irak und Deutschland

Ronya Othmann erzählt in ihrem Débutroman «Die Sommer» von Identitäts- und Heimatverlust – die Lektüre geht unter die Haut.

Peter Henning
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Ronya Othmann beim Ingeborg Bachmannpreis 30. Juni 2019.

Ronya Othmann beim Ingeborg Bachmannpreis 30. Juni 2019.

Amrei Marie

Ihr kurdischer Vater floh einst vor den Häschern Erdogans und Assads aus dem Nord-Irak nach Deutschland – traumatisiert durch Erfahrungen wie Versklavung, Unterdrückung, Folter. In ihrem Roman «Die Sommer» schreibt Ronya Othmann nun: «Die Nachbarn aus dem Dorf, die in die Türkei verheirateten Nichten der Grossmutter und deren Kinder, sie leben mittlerweile in Deutschland.» Heimat im ursprünglichen Sinn ist für sie alle nur noch das Gefühl des Verlusts. Und wenn sie heimatliche Gefühle beschleichen, mischen sich sofort Schmerz und Trauer darunter.

Othmann, 1993 in München geboren, erzählt uns von diesen nicht oder nur schwer zu verarbeitenden Identitäts- und Heimat-Verlusten. Und was es heisst, gerade als junger Mensch damit leben zu müssen.

Der Verlust der geliebten Grossmutter im Exil

Sie tut es am Beispiel ihrer stark autobiografisch motivierten, in München lebenden Stellvertreter-Figur Leyla, die in den Sommerferien jeweils in die Heimat ihrer Eltern, zu ihrer Grossmutter zurückkehrt. Was sie dabei vor allem protokolliert, ist das Gefühl der Entfremdung: «Leyla betrachtete sie genau, die paar Männer mit dunklen Jacken und Schnurrbärten, die vor der Halle standen und rauchten, die alte Frau mit weissem Kopftuch, deren Hand sie küsste.» Leyla setzt als eine fern der Heimat Geborene alles daran, heimatliche Gefühle für das Land ihrer Vater zu entwickeln. Sie tut es mit dem Blick der Aussenstehenden.

Der Schriftsteller Feridun Zaimoglu prägte einst den Begriff «Deutschländer»für all jene, die als Kinder türkischer Einwanderer in Deutschland zur Welt kamen, ihr kulturelles Erbe aber woanders haben. Zaimoglu gab den so Zerrissenen eine eigene, dem rauen Slang der Strasse abgelauschte Sprache, die er «Kanak Sprak» nannte – und die bisweilen hinreissende Sprachblüten trieb. Diese «Kanak Sprak» ist bei Othmann zur stillen Melancholie geworden, die ihre Figuren lähmt.

Othmann versteht es, uns mit klaren, einfachen Sätzen diesen unlösbaren Konflikt der Entfremdung ihrer Figuren fühlbar zu machen. Doch sie tut es auch als Chronistin bitterer Verluste. Nicht zuletzt führt sie es vor am Verlust ihrer geliebten Grossmutter im Exil. Als Mädchen hatte diese mit ansehen müssen, wie ihr Vater von muslimischen Fanatikern erstochen wurde. Doch auch die folgenden Erfahrungen der Vertreibung, der Umsiedlung und der Pogrome konnten sie nicht brechen. Sacht und zärtlich entsteht darüber das anrührende Porträt einer Frau, die in schweigsam praktizierter Religiosität zu einem Ruhepol innerhalb ihrer Familie wurde, bei dem alle Halt und Verständnis fanden.

Anekdoten wie diese liefert Ronja Othmanns berührende Erzählung zuhauf: Kleine, scheinbar unspektakuläre Überlebensgeschichten, die uns gerade dadurch packen, dass sie auf laute oder um Mitleid heischende Töne verzichten.

Ein Roman ist ihr Buch allerdings nicht wirklich. Wohl aber eines, das uns Heimat auf unter die Haut gehende Weise neu denken lässt. Das macht es wichtig und wertvoll.

Ronya Othmann: Die Sommer. Roman. Hanser Verlag, 288 Seiten.