Der jüdisch-amerikanische Jahrhundert-Schriftsteller Philip Roth ist im Alter von 85 Jahren verstorben. Sein Werk wird alle zu erwartenden Geschmacksstürme überdauern.
«Er hatte seinen Zauber verloren. Der Impuls war erloschen», heisst es gleich zu Beginn seines 2010 auf Deutsch erschienenen Kurzromans «Die Demütigung» über den Schauspieler Simon Axler. Und wer damals zwischen den Zeilen dieses mit der Wucht einer griechischen Tragödie daherkommenden Meisterwerks zu lesen vermochte, sah sich zwei Jahre später in seiner Annahme bestätigt, dass Roth damit durch die Maske seines literarischen Geschöpfs hindurch seinen eigenen nahenden Abschied von Amerikas grosser Erzählbühne künstlerisch vorweggenommen hatte. Denn tatsächlich gab der im März 1933 als Sohn jüdischer Einwanderer in Newark, New Jersey, geborene, vielfach als Literaturnobelpreis-Kandidat gehandelte Schriftsteller 2012 bekannt, nicht mehr schreiben und auch nichts mehr veröffentlichen zu wollen. «Jedes Talent hat seine Bedingungen, seine Beschaffenheit und seine Kraft», liess er die Welt damals demütig geworden wissen. Und seine sei nun erschöpft. «Ich habe das Beste aus dem gemacht, was ich hatte.»
«Roth lesen ist, wie in die offen gelegte Seele des Menschen blicken! Mit allen ihren Rissen und Verwerfungen. Kaum ein Autor hat uns jemals auf ähnliche Weise vor Augen geführt, was es heisst, Mensch zu sein.»
Dieter Wellershoff, deutscher Schriftsteller
Oh ja, das hat er! Und was er «hatte», wie er das nannte, war genug, um 25 Romane, zahlreiche Erzählungen und Essays hervorzustossen, die ihn, den Sohn eines kleinen Versicherungsangestellten, zu einem der bedeutendsten und meistverehrten amerikanischen Schriftsteller unserer Zeit werden liess. 1959 kam Roth – damals gerade mal 25 – mit Erscheinen seines 1958 gemeinsam mit fünf Erzählungen publizierten Kurzromans «Goodbye, Columbus» als grosses, leuchtendes Versprechen über die zeitgenössische amerikanische Literatur jener Jahre – und er hat es bis in das Jahr seines selbsterklärten literarischen Verstummens gehalten. Nun ist Philip Milton Roth, in dem Jonathan Franzen seinen «Meister» sah, 85-jährig in New York verstorben. Und die berühmte Heroldsformel, «der König ist tot, lang lebe der König!», mit welcher einst in Frankreich der Tod des alten Königs bekannt gegeben – und zugleich der neue ausgerufen wurde, läuft in Roths Fall plötzlich ins Leere. Denn tatsächlich agierte der oft streitbare Solitär bis zuletzt in einsamen literarischen Höhen – spielte, als er, weise und des nach Wörtern Suchens müde geworden, öffentlich abtrat, schon lange in seiner eigenen Liga.
Allem voran mit seinen panoramatischen Amerika-Romanen «Amerikanisches Idyll» (1997), «Sabbaths Theater» (1996), «Der menschliche Makel» (2000) oder «Verschwörung gegen Amerika» (2005), mit welchen er zum alle überstrahlenden Chronisten jüdischen Seins, Fühlens und Denkens im sich rasch verändernden Amerika dieser jener Jahre avancierte. Zu diesem Zeitpunkt lagen seine wilden, ihn einst früh berühmt machenden Zuckerman-Jahre und Romane bereits hinter ihm; Dekaden, in denen er, der selbsterklärte Erotomane, immer neu skandallüstern die eigene Existenz im Spannungsfeld von Amerika, Judentum und Sexualität literarisch verschleiert beschrieb.
Mit in spöttischer Offenheit wurzelnden Büchern wie dem Skandalerfolg «Portnoys Beschwerden» von 1969, in welchem er sein literarisches Alter Ego Nathan Zuckerman erstmals auftreten liess, und «Professor der Begierde (1977), erschrieb Roth sich in der Nachfolge Isaac B. Singers den Ruf eines spitzzüngigen Amerika-Kritikers. Und grossen Unterhalters! Roth, der das Leben bis zuletzt als «einen Prozess unbeeinflussbarer Zwangsläufigkeit» verstand – und es auch so beschrieb, nämlich als Abfolge kleiner Siege vor dem Hintergrund einer am Ende unausweichlich drohenden grossen Niederlage, betrieb lange ein trickreiches literarisches Spiel mit der eigenen Identität; Bücher wie «Gegenleben» (1988), «Täuschung» (1990) oder «Tatsachen» (dt. 1991) belegen dies wiederholt. Bis er mit der Veröffentlichung seines 2007 erschienenen Romans «Jederman» alle Masken fallen liess – und literarisch endlich mehr oder weniger unverstellt bei sich selbst angekommen war.
In der Folge erschien das, was man aus heutiger Sicht sein «Spätwerk» nennen darf: Bücher wie «Exit Ghost» (2008), «Empörung» (2009), «Die Demütigung» (2010) und zuletzt «Nemesis» (2011), die zum Schönsten und Ergreifendsten dessen zählen, was innerhalb der letzten 50 Jahre aus den USA literarisch zu uns herübergekommen ist. Insbesondere in diesen Arbeiten demonstrierte Roth eine Art der Einsichtnahme in die menschliche Existenz, die beim Lesen buchstäblich sprachlos macht.
«Roth lesen», so bekannte denn auch der grosse deutsche Schriftsteller Dieter Wellershoff einmal treffend, «ist, wie in die offen gelegte Seele des Menschen blicken! Mit allen ihren Rissen und Verwerfungen. Kaum ein Autor hat uns jemals auf ähnliche Weise vor Augen geführt, was es heisst, Mensch zu sein.» Tatsächlich schwang Roth sich in seinen letzten, an die Kurzromane Tschechows erinnernden Bücher zu einer geradezu existenzialistisch wirkenden Klarheit auf. Dabei gelang ihm mit der Figur des jungen Sportlehrers Eugene «Bucky» Cantor, der sich in dem Roman «Nemesis» in seinem einsam geführten Kampf gegen eine grassierende Polio-Epidemie am Ende selbst verliert, eine Figur Camus’schen Zuschnitts: ein allegorischer, sisyphos-hafter Charakter, wie ihn Camus’ Hauptfigur in dessen berühmtem Roman «Die Pest» verkörperte.
«Nemesis» markierte den würdigen Schlussstein eines sich aus Tausenden von Seiten fügenden Romanwerks, das gegen alle zu erwartenden Geschmacks-und Zeitgeist-Stürme bleiben wird. Denn die darin mit bewundernswerter literarischer Sorgfalt niedergelegten Geschichten vom Werden, Hoffen und Vergehen sind die unseren. Sie zu lesen, ist wie in den Spiegel zu schauen. Sich darin zu sehen und zu erkennen, ist das eine; es auszuhalten – und das hat am Ende wohl keiner besser gewusst als der nun von uns Gegangene – etwas anderes.
Nun hat für ihn, der das Alter «als Massaker» verstand, das Aushalten ein Ende. Der König ist tot. Und sein Thron fortan verwaist.