Startseite
Kultur
Edna O’Brien hat sich zum Ende ihres Lebens hin noch einmal tief hineinbegeben ins Thema der Gewalt gegen Mädchen und Frauen. Sie erzählt die Geschichte der Mädchen, die 2014 von Boko-Haram-Terroristen aus ihrer Schule entführt worden waren.
Schlimmeres ist eigentlich immer denkbar. Was Maryam aber erlebt, ein junges Mädchen, das mit anderen zusammen aus einem Internat entführt wurde, um dann im Dschungelcamp der skrupellosen Entführer von grölenden jungen Männern öffentlich vergewaltigt und ab dann in jeder erdenklichen Form versklavt zu werden: Da wird es schwierig, sich Schlimmeres vorzustellen. Nicht einmal der nächtliche Rückzug in den Schlaf bietet noch Sicherheit: Eines der Mädchen, das aus einem Traum aufgeschreckt war, ist dafür schon mit dem Herausschneiden der Zunge bestraft worden.
Edna O’Brien, 90, grosse alte Dame der irischen Literatur, hat sich zum Ende ihres Lebens hin noch einmal tief hineinbegeben ins Thema der Gewalt gegen Mädchen und Frauen. Sie war 88 Jahre alt, als sie während zweier Reisen nach Nigeria Kontakt aufzunehmen versuchte mit jenen Mädchen, die 2014 von Boko-Haram-Terroristen aus ihrer Schule entführt worden waren und denen die Flucht geglückt war.
Boko Haram, die den Taliban nahestehen, weltweit die Scharia durchsetzen und westliche Bildung abschaffen wollen, gelten im Blick auf die Brutalität, mit der sie Dörfer niederbrennen und Menschen hinmetzeln, als schlimmste Terrorvereinigung der Welt.
276 Mädchen im Alter zwischen 15 und 18 wurden im April 2014 von Boko Haram entführt und verschleppt. Von mehr als 100 von ihnen fehlt bis heute jede Spur. O’Brien traf etliche der Überlebenden in Aufnahmelagern.
Manchmal weinten sie, manche fragten, ob sie mit mir kommen könnten.
Das Traurigste von allem sei für sie ein Mädchen gewesen, «das sich grosse Mühe gab, mir in aller Ausführlichkeit zu erklären, dass ihre Familie sie zwar liebe, aber nicht zulassen könnte, dass sie wieder bei ihnen lebte.» Die Familie hatte Angst, dass ihre Tochter so indoktriniert worden sei, dass sie von ihrem «bösen Geist» angesteckt werden könnten. Gerade dieses Gespräch, so Edna O’Brien in einem Interview mit der «Sunday Times» 2019, habe sie mitten hineingeführt in ihr Buch.
Am Anfang ihrer Recherche hatte ein Artikel gestanden, in dem sie über eines der Mädchen gelesen hatte, das nach seiner Flucht mit Baby im Wald zu überleben versuchte. Aber wie kann Überleben gehen, so angefüllt mit physischer Folter und geistigem Terror der «Umerziehung», wie es nach zwei Jahren im Camp war? Für Maryam, die Hauptfigur in O’Briens Roman, ist die Zwangsheirat irgendwann fast ein Segen.
Und dann kommt tatsächlich der Tag, an dem ihr zusammen mit ihrem Baby Babby und einem anderen Mädchen, Buki, die Flucht gelingt. Wildnis, Hunger, Verlorenheit heissen nun die Feinde. Nun sind die beiden überlebenden Mädchen einander ausgesetzt – geladen mit jener Gewalt und Hass, die ihnen angetan wurden.
Es ist nicht einfach, ein Buch literarisch zu beurteilen, das nicht nur moralisch über jeden Zweifel erhaben, sondern auch mit so viel Mut und Engagement erkämpft wurde. «Es war die Hölle», sagte O’Brien im Interview. Weder ihr Roman zum nordirischen Bürgerkrieg noch derjenige zum Bosnienkrieg hätten ihr so viel abverlangt wie dieser. Und wie überhaupt Worte finden, die ein von der Dauerbeschallung mit Schreckensnachrichten abgestumpftes Publikum tatsächlich erreichen?
Als Ich-Erzählerin schildert Maryam – die nicht einer Mädchenfigur nachgebildet, sondern aus verschiedenen Schicksalen zusammengesetzt ist – das schockierende Geschehen einerseits direkt und unmittelbar – zugleich aber schaut sie auch deutend und resümierend auf die Dinge, als ob sie Abstand hätte.
Wir konnten nicht sprechen. Wir waren zu jung, um zu wissen, was geschehen war oder wie wir es nennen sollten.
Das Problem dieser etwas konstruiert wirkenden Erzählstimme löst sich im zweiten Teil des Buches auf, wenn Maryams dramatische Odyssee durch Polizeistationen, Hilfsorganisationen und vor allem die verschiedenen Instanzen der Grossfamilie erzählt wird, die ihr mit perfider Grausamkeit eine Art zweiten seelischen Tod zufügen.
Höhepunkt des Zynismus ist der politische Festakt, in dem die staatlichen Würdenträger sich selbst feiern, während Maryam ihr Kind weggenommen wird. Die grenzenlose Tragödie, die gerade unter Frauen entsteht, wenn diese im Griff von Autoritätsgläubigkeit, von Glaubens- oder Aberglaubenssystemen ihr Leben und ihre Kinder diesen Systemen opfern, hat Edna O’Brien, die Anwältin unterdrückter Frauen, in Maryams Überlebensgeschichte eindrucksvoll erzählt.