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In der Schweizer Literatur ist Corinna T. Sievers eine radikale Ausnahme. Tagsüber Ärztin für Zahnkorrekturen, seziert sie nachts literarisch die Krankheit namens Sex: Anti-Illusionen, die unter die Haut gehen.
In ihrer Einzelpraxis für Kieferorthopädie am Zürichsee schaut man sich vergeblich nach ihren Romanen um. Im Wartezimmer liegen die üblichen Illustrierten. Sie trenne ihren Beruf strikt von der Literatur, sagt die 53-jährige Corinna T. Sievers.
Viele Patienten wären sonst wohl irritiert bis erschrocken. Über die rabenschwarze Sicht auf das Verhältnis zwischen Mann und Frau, vor allem aber über den unbarmherzigen Blick auf den körperlichen Verfall und den Sex.
Gerade ist ihr fünfter Roman erschienen: In «Vor der Flut» erzählt sie kühl sezierend von einer nymphomanischen Zahnärztin, die den Sex als Machtvehikel und als Selbstauslöschung betreibt.
Sylt im Januar: Ein riesiger Eisberg bedroht die Küste, und im ehemaligen Walfängerhäuschen kippt die unterkühlte Ehe von Judith und Hovard. Seit der Hochzeit vor 25 Jahren verweigert Hovard das Geschlechtliche und spielt den asketischen Beschützer, was Judith in die Nymphomanie treibt. Sie benutzt die Männer und wirft sie weg, betäubt sich damit aber auch selbst.
Die äussere Natur ist hier wie die innere zerstörerisch. Kühl wie das Ambiente ist der literarische Stil von Corinna T. Sievers. Unbarmherzig und hochintelligent seziert sie schlaffe Körper und lädierte Seelen.
Schon zu Beginn macht die Ich-Erzählerin klar: «Es ist die Geschichte vom Ende meiner Ehe.» Dann steuert das Buch auf 220 Seiten wie eine spannende, sehr gekonnte Novelle akribisch, cool und schamlos zwischen existenzieller Abgründigkeit, expliziten Sexszenen und metaphorisch aufgeladener Naturbeschreibung auf das brachiale Ende zu. Beim Bachmannpreis in Klagenfurt war die Jury geteilt: «mutig», «konstruiert». Allzu zarte Gemüter sind gewarnt. (hk)
Corinna T. Sievers: Vor der Flut. Roman (Frankfurter Verlagsanstalt) 224 S.
Was ist die grössere Plage der Menschen: Liebe oder Sex?
Corinna T. Sievers: Die Liebe und das Scheitern daran. Als Jugendliche sucht man nach der Liebe, bekommt das Ideal einer lebenslangen Liebe vorgegeben. Diese Manipulation prägt uns. Man versucht es, aber scheitert. Ich bin selbst sehr oft gescheitert. Die meisten, die ich kenne, ebenfalls. Die Unmöglichkeit der Liebe ist frustrierend.
Im neuen Roman schreiben Sie über eine Nymphomanin, die Sex als Macht ausübt, aber auch die Scham über sich betäubt. Eine grosse Plage.
Ja, da ist der Sex Mittel zum Zweck. Man kann Sex als eine Droge benutzen, um das peinliche Ich zu verdrängen. Das Gefühl der Peinlichkeit ist aber urmenschlich. Sogar Thomas Mann hat am Ende seines Lebens gesagt, eigentlich sei das Leben nur peinlich. So sehe auch ich das und versuche, nicht allzu sehr ins Reflektieren zu geraten – aus Angst vor der Scham über mich selbst.
Sie sind doch eine unerschrockene Frau. Weshalb Scham?
Etwa über mein Äusseres, wie vielleicht jeder Mensch, oder über meine Doppelrolle als Ärztin, Mutter, Ehefrau und als Schriftstellerin. Da werde ich angreifbar. Es gibt schon Bekannte, die meine Bücher unappetitlich finden. In meiner Praxis merke ich davon aber wenig. Die Schweizer sind ja diskret. Man wird kaum direkt angesprochen.
Und wie reagiert Ihre Familie?
Meine Bücher stehen auch in Schulbibliotheken. Es ist vorgekommen, dass meine Kinder sich beklagten, wenn Klassenkameraden sexuelle Passagen fanden.
Was überwiegt beim Schreiben: Die Lust am Literarisch-Unbarmherzigen oder die Analyse des Menschlichen?
Interesse am Abgründigen des Sex auf jeden Fall. Dafür haben wir doch die Kunst, die Literatur, die sich mit diesen Konflikten beschäftigen. Aber es ist auch Zorn. Es gibt zu viele Männer, die ohne jede Selbstkritik grob und uncharmant sind. Klitorisleugner, penisfixierte Typen, die weibliche Sexualität ignorieren. Deshalb sind die Szenen in meinen Büchern, in denen solche Männer schlecht wegkommen, zwar literarische Grotesken, aber das Verhalten ist aus dem Leben gegriffen. Es gibt in meinen Romanen aber auch paternalistische Asketen, die Macht über ihre Frauen ausüben, indem sie sich sexuell verweigern, keine Gefühle zeigen. Die männliche Hauptfigur im neuen Roman ist auf diese Weise überheblich.
Sie sagten mal, Martin Walser sei für Ihr Schreiben ein grosses Vorbild.
Er ist mein Idol, weil er einen erbarmungslosen Blick auf sich und seine Geschlechtlichkeit hat. Mit Martin Walser pflege ich eine Brieffreundschaft. Er hat mir sogar in seinem 2017 erschienenen Roman «Statt etwas oder Der letzte Rank» ein Kapitel gewidmet. Da beschreibt er mich märchenhaft als Verführerin, die im Garten einen Friedhof der abgelegten Männer errichtet. Das war ein grosses Geschenk für mich.
Sie schreiben über körperlichen Verfall und Sex kühl und detailliert wie ein Gerichtsmediziner beim Sezieren einer Leiche.
Das ist gut formuliert. Ich schreibe ja keine erotischen Romane, kein schlüpfriges «Fifty Shades of Grey». Zudem interessiert mich die Intellektualität meiner Figuren mehr als ihre Triebhaftigkeit.
Empfinden Sie Ihre Romane als Zeitkritik, wie bei Michel Houellebecq, ein anderes Vorbild von Ihnen?
Nein. Ich glaube, die Menschen waren immer schon fixiert auf das Sexuelle. Das steckt einfach in uns drin. Man kann es heute einfach leichter aussprechen. Und weil ich Naturwissenschafterin bin, stellt es für mich auch keinerlei Geheimnis dar. Deshalb mein schamloser Umgang damit. Sex ist Biologie, wie Pinkeln. Meine Romane sind eher existenziell, weniger gesellschaftskritisch.
In «Halbwertszeit der Liebe» unterwarf sich eine frigide Wissenschafterin masochistisch einem impotenten, gewalttätigen Mann. Das ist doch mehr als Biologie, nämlich psychische Deformation.
Ich bin tolerant gegenüber sexuellen Praktiken und habe medizinisch dafür Verständnis. Im Roman erwacht die Sexualität der Frau im Moment der Unterwerfung. Das ist einfach eine mögliche Variante des Sexuellen. Sie mögen es als Perversion sehen. Ich mag das nicht als Krankheit bezeichnen. Es ist nur eine Abweichung von der gesellschaftlichen Norm. Literarisch interessierte es mich darzustellen, wie man auf eine Spielart des Sexuellen reduziert sein kann.
In Ihrem neuen Buch ist das Thema Nymphomanie. Sie schreiben von Buch zu Buch an Ihrem Sittenbild der sexuellen Abweichung weiter?
Ich bleibe dem Thema treu. Sexualität in ihren Varianten, ihrer Abgründigkeit und Zerstörungskraft. Das nächste Buch wird aus der Perspektive eines alten Mannes den Verlust der Potenz thematisieren. Martin Walser hat auch schon darüber geschrieben.
Ein Roman über die Tragödie des Prostatakrebses? Bei vielen älteren Männern löst dies eine Riesenangst aus.
Das ist ein guter Hinweis, vielleicht baue ich das ein. Und dann muss ich mal einen Roman über den Schweizer Mann schreiben.
Was ist denn am Schweizer Mann so besonders?
Die Schweizer Männer sind sexuell zuerst sehr reserviert, aber nach zwei Gläsern Wein gibt es eine Totalenthemmung. Auffällig ist ja auch die Beliebtheit von Bordellen beim Schweizer Mann.
In der Schweizer Literatur erfährt man darüber wenig.
Eben. Meiner Meinung nach geht die Schweizer Literatur zu wenig in Grenzbereiche, tut zu sauber.
Liest man Ihre Romane, ist man womöglich überrascht, dass Frauen genauso kühl und berechnend über Männer und Sex erzählen, wie das männliche Autoren taten.
Ach, bei den Frauen ist das doch keine Spur anders als bei Männern. Frauen können auch übergriffig sein, taxieren die Männer, denken viel und auch schamlos an Sex. Tun wir nicht so naiv: Wir sind doch alle sexbesessen.