Philosophie
Der Philosoph Sören Kierkegaard hat sich selbst das Leben schwer gemacht

Sören Kierkegaard, der Denker der «subjektiven Wahrheit», würde am 5. Mai 200 Jahre alt. Er forderte stets konkretes Denken. Und als er 1855 starb, konnte man nicht viel anderes sagen, als dass sich hier einer «kaputtgeschrieben» habe.

Christoph Bopp
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Sören Kierkegaard (1813–1855): Unerbittliches Denken gegen den Mainstream.

Sören Kierkegaard (1813–1855): Unerbittliches Denken gegen den Mainstream.

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Heute dürfte sich deswegen wohl niemand mehr aufregen. Aber eigentlich ist es ein ungeheurer Satz: «Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.» Damals, als der preussische Staatsphilosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel ihn aussprach oder niederschrieb (in der Vorrede zur «Rechtsphilosophie», 1820), hat man sich aber wacker aufgeregt. Warum? Heute brauchen wir das Wörtchen «wirklich» vor allem in der Frageform und als Suche nach Bestätigung: «Wirklich?» Damals behauptete Hegel mit dem Anspruch auf «Wirklichkeit» nichts weniger, als dass der Gehalt der (gemeint war: seiner) Philosophie die Welt sei. Na und? Und: was denn sonst? Die Zeiten waren damals ernster. Der Meisterdenker, an dem sich die junge Philosophenzunft um 1800 abarbeitete, war Immanuel Kant. Ihn hatte ja die Frage umgetrieben, was man denn einigermassen sicher wissen könne. Den Rest müsse man verwerfen. Und da blieb weniger, viel weniger, als mancher dachte.

Warum betreibt der Mensch Philosophie? Auf diese Frage gibt es wohl so viele Antworten, wie es Philosophen gibt. Oder auch nur eine: Eigentlich geht es immer um das Verhältnis von Denken und Sein. Seit den Griechen. Oder wie es Hegel formulierte («Philosophie der Religion»): «Der Gegenstand der Religion wie der Philosophie ist die ewige Wahrheit in ihrer Objektivität selbst, Gott und nichts als Gott und die Explikation Gottes.» Wie nähert sich der Philosoph der Wahrheit oder dem Sein oder «Gott»? Mit Begriffen. Der Begriff beinhaltet das Beständige, das Allgemeine. Denken heisst «auf den Begriff bringen».

Fasst man den Begriff als etwas Starres, Unveränderliches auf, wie man sich manchmal Platons «Ideen» vorstellt, gibt es mancherlei Probleme. Hegel geht ihnen aus dem Weg, indem er das Ganze zum Prozess erklärt. Die Denkkategorien (die «Begriffe») entwickeln sich nach (dialektischen) Gesetzen. In diesem Prozess kommt der «Geist» zu sich selbst, in unserem Bewusstsein, aber auch in dem, was um uns herum ist.

Damit konnte Hegel behaupten, die Philosophie an ein Ende gebracht zu haben. Im «Nach-Denken» wird so die Welt auf den Begriff gebracht. Das war nicht einfach hinzunehmen. Zwei Denker haben ihm aber besonders vehement widersprochen. Der eine war Karl Marx. Sein Argument war: Hegel klebt am Abstrakten, seinem System von Begriffen. Die Wirklichkeit des Menschen ist sein Lebensvollzug, seine Praxis. Als einzelner Denker à la Hegel bleibt nicht viel mehr als anzustaunen, was «der Geist» zustande gebracht hat. Aber «die Wirklichkeit» machen die Menschen selbst, wenn sie gesellschaftlich tätig sind. Und diese «Wirklichkeit» entspricht meist nicht dem, wie der Mensch eigentlich leben sollte. Deshalb sollte die Philosophie dazu führen, die Welt nach dieser Massgabe umzubilden (das ist die berühmte «Elfte These gegen Feuerbach»).

Der andere Einsprecher war der Däne Sören Aabye Kierkegaard. Sein Argument gegen Hegel setzt an einem ähnlichen Punkt an wie das von Marx, läuft dann aber ganz anders. Hegels Denken sei weltenthoben und laufe ins Leere. Er fordert Konkretheit: «Was ist konkretes Denken? Es ist das Denken, wo es einen Denkenden gibt, (...) wo die Existenz dem existierenden Denker den Gedanken, die Zeit und den Raum gibt.» Wie Hegel zu denken, heisst auch für Kierkegaard nicht viel mehr als zur Kenntnis nehmen, was und wie es ist. Betrachten, analysieren, vergleichen – Theorie halt – ein Denken, das für den Denkenden folgenlos bleibt, ihn nicht betrifft und ihn zu nichts verpflichtet.

Dass Marx gegenüber seiner Zeit sehr kritisch eingestellt war, ist bekannt. Aber auch Hegel hielt sich diesbezüglich nicht zurück: « In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts.» Das ist der Homo oeconomicus in einer nicht sehr sympathischen Gestalt. Im Kommunistischen Manifest» schreiben Marx/Engels: «Die Bourgeoisie (...) hat (...) kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ‹bare Zahlung›.»

Kierkegaard sieht es ähnlich. Seine Hegel-Kritik und seine Gesellschaftskritik treffen sich im Begriff «Verantwortung». Das Leben sei eine Sache des Wissens geworden, jeder weiss etwas zu sagen, aber Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen für sich und sein Leben, dazu fühle sich niemand verpflichtet. «Kein, kein einziger wagt es, Ich zu sagen.» Stattdessen plappern alle dem nach, was man schon «die öffentliche Meinung» heisst.

«Ein Einzelner» will er sein, der Sören Kierkegaard aus Kopenhagen, Sohn eines begüterten Wollhändlers. Vorzuweisen hat er ein Theologie-Studium ohne Ordination und eine aufgelöste Verlobung. Eine «gescheiterte Existenz» würde man heute sagen. Aber fleissig ist er und unglaublich produktiv. Seine veröffentlichten Werke füllen mehrere Regalmeter, seine Tagebücher noch mehr. Und als er 1855 stirbt, kann man nicht viel anderes sagen, als dass sich hier einer «kaputtgeschrieben» habe.

Sein Vater spielte eine grosse Rolle in Sörens Leben. Als junger Mensch hatte er einst Gott verflucht, dass er ein solches Elend zulasse. Und sein späteres Leben fasste er – trotz wirtschaftlichem Erfolg – als Busse und Strafe auf. Seine erste Frau stirbt, bis auf Sören und seinen Bruder sterben seine Kinder vorzeitig – das ergibt eine lähmende Atmosphäre im Hause K. Als der Vater 1838 stirbt, scheint Sören endlich auf den Karriereweg einzubiegen.

Es kommt anders. Kierkegaards Leben findet von nun an in der Literatur statt. Er beschliesst, sich in die Verantwortung zu stellen und seinen Mitmenschen den Spiegel vorzuhalten. Wie man eigentlich leben sollte, Kierkegaard will die Möglichkeiten einer Existenz, die «redlich» ist, durchspielen. Das findet in Werken statt, deren Titel bereits beklemmend klingen: «Entweder – Oder», «Furcht und Zittern», «Der Begriff Angst», «Krankheit zum Tode» – und als Autor figurieren Pseudonyme. Das hat einen Grund. Nicht dass sich Kierkegaard hätte verstecken wollen. Aber die Figuren sind gewissermassen auch Protagonisten der Lebensweise – oder besser gesagt: der Existenzform –, welche im betreffenden Werk abgehandelt wird. Und das kann nur eine des Glaubens sein.

Als Schriftsteller übt Kierkegaard eine eigentümliche Faszination aus. Er will nicht dozieren oder erklären, sondern den gedanklichen Vollzug dem Leser überlassen. Es geht ja nicht um eine Wahrheit, die «objektiv» aufgefunden werden kann, sondern weil es den Einzelnen betrifft, geht es um eine «subjektive Wahrheit», eine Wahrheit für mich. Selbstredend ist eine solche Wahrheit nicht harmlos. Sokrates konnte auf seine Mitbürger einwirken, weil er auf sein Nichtwissen pochte. Kierkegaard sieht die Parallele: Im Land eines Schein-Christentums kann er das nur als «bewusster Nicht-Christ».

Genau so muss man vorgehen, wenn man sich das Leben so schwer wie möglich machen will.