Das Museum Tinguely stellt in «Écrits d’Art Brut – Wilde Worte & Denkweisen» Kunst vor, die in psychiatrischen Anstalten entstanden ist.
Wie lässt sich ein Leben hinter Mauern beschreiben? Zum Beispiel, indem die Mauern buchstäblich beschrieben werden – von Hand. Fernando Oreste Nannetti, 1956 wegen Schizophrenie und Halluzinationen in eine römische Anstalt weggesperrt, wandert mit einem einen Zentimeter langen Metallstift durch den Hof und kratzt damit seine Sehnsucht, seinen Hunger und die Hybris in eine 70 Meter lange Steinfassade.
Wo die katatonischen – also regungslosen – Patienten auf einem Bänkchen sitzen, schreibt er um ihre Köpfe herum, ohne Punkt und Komma. Er fantasiert einen Teller Spaghetti dabei ebenso inbrünstig herbei wie die Anwesenheit eines kosmischen Baumeisters, der ihm die ganze Schöpfung samt der unerbittlichen Wand überantwortet: «Frei wie ein Schmetterling bin ich, die ganze Welt gehört mir.»
Abgüsse des eindrücklichen steinernen Tagebuches sind derzeit im Museum Tinguely zusammen mit den Werken von zwölf weiteren Vertreterinnen und Vertretern der Art brut ausgestellt – einer Kunstform, die auf Regeln, Normen und ein Publikum verzichtet: Nannetti etwa kippte und spiegelte seine eckigen Buchstaben, was das Entziffern zusätzlich erschwert. «Sie haben kein Interesse an gesellschaftlicher Anerkennung», sagt dazu Lucienne Peiry, langjährige Leiterin der Collection de l’Art Brut in Lausanne. «Sie wissen nicht, dass sie Kunstschaffende sind.»
Für die internationale Gruppenausstellung hat die Gastkuratorin Objekte aus einem Dutzend Museen sowie aus öffentlichen und privaten Sammlungen zusammengetragen, die unter dem Titel «Écrits d’Art Brut – Wilde Worte & Denkweisen» präsentiert werden. Dazu zählen auch Werke von Art-brut-Grössen wie Adolf Wölfli (1864–1930), der als Halbwaise und Verdingkind aufwuchs und in der Nervenheilanstalt Waldau ein überbordendes Gesamtkunstwerk aus Zeichnungen, Musiknotationen und Schriften schuf. Oder Giovanni Battista Podestà (1895–1976), der den Bogen zu Tinguely schlägt.
«Was sind die Neuentdeckungen?» – mit diesen Worten pflegte Tinguely jeweils die Collection de l’Art Brut zu betreten, um sich von der Nonkonformität der Autodidakten inspirieren zu lassen. Von Podestà, der in zwei Weltkriegen kämpfte und später in selbstgeschneiderten Kostümen durch sein norditalienisches Heimatdorf wandelte, sammelte Tinguely filigrane Skulpturen mit seltsam spitzen Auswüchsen – als hätte der Erschaffer deren Nervenenden freigelegt. Mit seinen Figürchen reagierte Podestà auf den materialistischen Zeitgeist und die Vergötzung des Goldes, wie eines der Exponate erklärt.
Und zumindest in einem Fall handelt es sich bei den Drahtenden tatsächlich um Antennen oder vielmehr um Fühler. Eine Menschenfigur, einen Vanitas-Spiegel in der Hand, ist über und über von Käfern und Insekten bedeckt. «Um elegant zu sein, macht man eine Abmagerungskur», schreibt Podestà dazu: so lange, bis nur noch die Knochen übrig sind. Man glaubt beinahe, die mechanische Geschäftigkeit der Krabbeltiere zu hören – eine Unruhe, die sich auf das Publikum überträgt.
So unterschiedlich der Umgang mit Schrift, so unterschiedlich fallen auch die gezeigten Werke aus. Bei Laure Pigeon (1882–1965), die sich für den Spiritismus interessierte, kondensieren zarte Gespinste zu noch feineren Buchstaben, die so gar nicht «brut» wirken. Und von Marie Lieb (1844–1917) wurde eine Installation rekonstruiert, die sie aus Stoffresten auf dem Boden ihrer Klinik auslegte: ein Sternenhimmel für ihre früh verstorbenen Kinder. «Es geht immer auch um Widerstand gegen das Leid», sagt Peiry: verursacht durch Schicksalsschläge ebenso wie durch Isolation, Dauerbäder und Elektroschocks.
Der «Art brut» gelang, was den meisten Insassen der Anstalten verwehrt blieb, nämlich der Sprung in die Freiheit. «Mauer» ist eben auch nur ein Wort.
Écrits d’Art Brut – Wilde Worte & Denkweisen, Museum Tinguely, bis 23. Januar 2022. www.tinguely.ch