Die Schweizer Erstaufführung des Pop-Oratoriums «Luther» setzt ein eindrückliches Ausrufezeichen zum Reformationsjubiläum. Das musikalische Feuerwerk elektrisiert das Publikum in der prallgefüllten Olma-Halle.
«Weg mit dem Mönch» heisst die Losung im Jahr 1521 auf dem Wormser Reichstag. Für Kaiser Karl V. und die deutschen Kurfürsten ist der aufmüpfige Luther längst zur Bedrohung ihrer uneingeschränkten Macht geworden. Er muss weg, und zwar schnell. Nur einer hält ihm noch die Stange und rettet ihm das Leben, der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise, der ihn zu seiner Sicherheit auf die Wartburg bei Eisenach entführen lässt. Zehn Monate hält sich Luther dort versteckt als Junker Jörg und beginnt mit der deutschen Bibelübersetzung. Wäre die Reformation ohne diese Rettung in letzter Sekunde im Sande verlaufen? Hätte Luthers Leben wie das von anderen «Ketzern» auf dem Scheiterhaufen geendet?
Das Pop-Oratorium aus der Feder von Michael Kunze (Text) und Dieter Falk (Musik), zwei Schwergewichten der deutschen Musicalszene, bildet Luthers Leben und die historischen Ereignisse in einem zweieinhalbstündigen monumentalen Sound- und Sinnenereignis ab. Ein topmotivierter Ad-hoc Chor, eine Live-Band mit präzisem und knackigem Popmusik-Sound und Solisten bieten am Samstag in der St. Galler Olma-Halle ein Sinnenfeuerwerk.
Neben dem musikalischen Feuerwerk spielt sich auch eine wahre Lichtorgie ab in einem aufwühlenden, bisweilen hektischen Stakkato-Rhythmus. Atemlos und unbarmherzig nehmen die tragischen Ereignisse ihren Lauf. Die Wankelmütigkeit des Volkes, repräsentiert durch den gewaltigen Chor (300 Sängerinnen und Sänger aus der Region), steht dabei im ständigen kontrapunktischen und widersprüchlichen Dialog mit den historischen Amtsträgern. Diese werden dargestellt von den Solisten – zwischen den Profis spielt auch der Herisauer Schüler Nando Kuhn mit (Martin Luther als Kind).
Zwischen Forte und Fortissimo bewegt sich die Dynamik der solistischen Leistungen, die leisen Zwischentöne fehlen weitgehend. Zum Bedauern der einen und zum Entzücken der anderen, was die Standing-Ovations am Schluss der Aufführung zum Ausdruck bringen.
Überzeugend wirkt die choreografische und tänzerische Performance der Solisten, die sich sowohl auf der Bühne, aber auch davor und im Zuschauerraum abspielt. Gespickt mit vielen Anspielungen auf die heutige Zeit.
Die im Mark bedrohte Kirche und die herrschenden Politiker reagieren in diesem Machtpoker mit einer Verteidigungsstrategie, die da heisst: der Mönch muss weg. Die Kirche und die damaligen Banken (Fugger in Augsburg) sehen den einträglichen Ablasshandel in Gefahr, der von Luther als Gaunerei bezeichnet wird. Dass der «Ketzer» für einmal stärker ist als der Papst, stellt eine aussergewöhnliche Laune der Geschichte dar.
Frank Winkels gelingt es mit seiner überzeugenden schauspielerischen Leistung, die Zerrissenheit Martin Luthers glaubwürdig auf die Bühne zu bringen: Er spielt einen Luther, der schwankt zwischen mönchischem Gehorsam und eigenem Gewissen. Dass dabei ein bisschen gar viel Pathos mitschwingt, mag man ihm angesichts der eindrücklichen Bühnenpräsenz gerne verzeihen.
Ohne die Erfindung des Buchdrucks wäre die weltumspannende Wirkungsgeschichte Luthers nicht möglich geworden. Vergleichbar mit der heutigen Digitalisierung wirkte der Buchdruck als gewaltiger Multiplikator, der die bis anhin geltende Tradition mit seiner Vervielfachung des Wissens rigoros brach. Eine Disruption historischen Ausmasses: «Die Wahrheit ist ein scharfes Schwert, das die Mächtigen das Fürchten lehrt.»