Dramatischer Appell aus der umzingelten ukrainischen Metropole: Die Hafenstadt droht komplett in russische Hände zu fallen.
«Helft uns und gebt uns Sicherheit in einem Drittland», appellierte Sergej Wolynskyj, der Marine-Kommandant der seit über 50 Tagen von Russland belagerten Stadt Mariupol. Wolynskyj, Kampfname «Wolyna», ist einer der letzten Verteidiger der ukrainischen Hafenstadt Mariupol.
Seine eingeschlossenen Truppen verhindern mit ihrem verbissenen Widerstand eine russisch besetzte, strategisch ungemein wichtige Landzunge vom Donbass auf die von Moskau bereits 2014 annektierte ukrainische Halbinsel Krim.
Soldaten mischen sich selten in die Politik ein, doch «Wolnya» machte nun eine Ausnahme. In einer dramatischen Videobotschaft rief er die internationale Gemeinschaft in der Nacht auf Mittwoch dazu auf, seine Soldaten und Zivilisten in ein Drittland ausserhalb der Kriegsparteien Russland und Ukraine, womöglich die Türkei, zu evakuieren. «Der Feind ist zehnmal stärker als wir, wir haben 500 verwundete Soldaten und Hunderte Zivilisten», sagt «Wolyna».
Die 440'000-Einwohnerstadt Mariupol ist seit 51 Tagen von russischen Truppen umzingelt. Der Belagerungsring hat sich immer mehr zusammengezogen. Am Mittwoch war nur noch das Kombinat von der Grösse des Vatikans in ukrainischen Händen. Die einstigen gut 10'000 Arbeiter sind längst geflohen, der Hochofen abgeschaltet. Verschanzt haben sich in der Industrieanlage am Meeresufer die letzten verbliebenen Verteidiger der praktisch ganz zerstörten Hafenstadt.
Wie viele es sind, weiss niemand genau. Laut Angaben der russischen Invasoren sollen sich noch knapp 3000 ukrainische Soldaten und etwa 1000 Zivilisten dort aufhalten. Letztere würden als «lebende Schutzschilde» missbraucht, heisst es in Moskau.
Das russische Verteidigungsministerium hat angeblich deshalb einen einseitigen Waffenstillstand ausgerufen und die Soldaten aufgefordert, sich zu ergeben und alle evakuieren zu lassen. Die beiden zuständigen ukrainischen Kommandaten indes trauen diesem «grünen Korridor» nicht.
Swiatoslaw Palamar, Kampfname «Kalina», von dem wegen rechtsradikaler Strömungen umstrittenen Freiwilligenbataillon «Asow» sagt in einer Videobotschaft: «Wir werden kämpfen bis zur letzten Patrone, aber wir fordern das Vaterland auf, unsere Zivilisten zu retten».
Sein «Asow»-Bataillon hat sich erst kürzlich auf dem weitläufigen Gelände des Kombinats mitten im östlichen Teil der Stadt mit dem von «Wolny» kommandierten Marine-Infanterie-Regiment vereinigt. Bisher hatten die beiden Truppen verschiedene Frontabschnitte innerhalb der Grossstadt gehalten. Mehrmals hatten beide angeblich gut gemeinte russische «Angebote», sich kampflos zu ergeben, verstreichen lassen.
Die Stadt Mariupol selbst ist inzwischen in russischen Händen. Die rund 120'000 verbliebenen Einwohner wurden aufgefordert, sich zu registrieren und weisse Armbänder zu tragen. Wer sich weigere, werde als Feind betrachtet und erschossen, berichtet ein Berater des Bürgermeisters.
Unklar blieb am Mittwoch, ob der angebliche russische Waffenstillstand von den Invasionstruppen eingehalten wurde. Ob der humanitäre Korridor aus dem besetzten Stadtzentrum zustande kam, blieb ebenfalls offen.
Was allerdings gelang, ist die Evakuierung von rund 500 Grenzschutzsoldaten und Polizisten, die seit Tagen im abgeschnittenen Hafengelände auf der Westseite der Stadt festsassen. Sie wurden von «Kalinin» und «Wolny» aufs Gelände von «Asowstal» evakuiert, wie beide Kommandanten am Mittwoch schelmisch lachend in einem Video verkündeten.