Ein anonymer Regierungsmitarbeiter kritisiert in einem «New York Times»-Meinungsbeitrag den Präsidenten und zweifelt die Kompetenz von Donald Trump an. Ist eine solche Kritik zulässig?
Die Frage weckt Erinnerungen an dunkle Seminarräume in der Universität und an Traktate englischer oder deutscher Intellektueller, die selbst nach intensiver Lektüre schwer verständlich blieben. Doch im Washington des Jahres 2018 ist die Frage brandaktuell und alles andere als theoretisch: Was ist wichtiger, die Loyalität gegenüber dem abstrakten Staatsgefüge, der amerikanischen Republik, oder die Loyalität gegenüber dem Vorgesetzen, dem Präsidenten, dem man letztlich seinen politischen Job verdankt?
Seit dem Amtsantritt von Präsident Donald Trump am 20. Januar 2017 gab es immer wieder anekdotische Hinweise darauf, dass eine lose Gruppe hochrangiger Regierungsmitarbeiter erstere über letztere stellt. Von den «Erwachsenen im Raum» war in den entsprechenden Zeitungsberichten oder Buchpassagen dann jeweils die Rede, von verantwortungsbewussten Männern und Frauen, die den unberechenbaren Staatschef angeblich davon abhielten, noch häufiger seinen Impulsen nachzugeben. Und natürlich gab es auch immer wieder Gerüchte, dass eine Reihe von Kabinettsmitgliedern ernsthaft darüber gesprochen habe, den Präsidenten aus dem Amt zu hebeln. So sprach der Autor Michael Wolff zu Beginn des Jahres, nach der Publikation seines Bestsellers «Feuer und Zorn» (auf Englisch: «Fire and Fury»), auf dem Fernsehsender «NBC» über namenlose Angestellte des Weissen Hauses, die sich besorgt über den Geisteszustand des Präsidenten gezeigt hätten.
Dass diese Anekdoten und Gerüchte nicht erfunden waren, wie Trump immer wieder behauptete, beweist nun ein Meinungsbeitrag, der in der Donnerstagsausgabe der «New York Times» abgedruckt wurde und in der Hauptstadt für grossen Wirbel sorgt. In der Abhandlung behauptet ein anonymer «hochrangiger Regierungsmitarbeiter», es sei nur einer kleinen Gruppe aufrechter Patrioten zu verdanken, dass der «unmoralische» Präsident nicht sämtliche seiner «undemokratischen» Ideen umgesetzt habe. Ideen notabene, die mit dem Gedankengut der Republikanischen Partei nicht vereinbar seien.
Der anonyme Autor spricht von einer «stillen» Widerstandsbewegung, die sich innerhalb der Regierung formiert habe, und von Regierungsangestellten, die versuchten, mit ruhiger Hand den Staatstanker auf Kurs zu halten. Dass er in diesem Zusammenhang auch den kürzlich verstorbenen Senator John McCain erwähnt – der übrigens privat ebenfalls ein Choleriker war –, ist sozusagen das Tüpfelchen auf dem i, sickerte doch in den vergangenen Tagen durch, wie sehr sich Trump über die landesweite Verehrung für McCain aufregte.
Trump will den anonymen Gastbeitrag derweil zu einem Fall für die obersten Justizbehörden machen. Er sagte am Freitag vor Journalisten an Bord der Air Force One, er werde Justizminister Jeff Sessions auffordern zu untersuchen, wer den Artikel verfasst habe. Die Kolumne sollte als Angelegenheit der nationalen Sicherheit behandelt werden. Mehrere Minister sahen sich bemüssigt zu erklären, sie hätten nichts mit dem Artikel zu tun. Vizepräsident Mike Pence, Aussenminister Mike Pompeo und Verteidigungsminister James Mattis bestritten ihre Autorenschaft.
Unklar bleibt das Motiv des «Senior Official» – eine Bezeichnung, die buchstäblich auf Hunderte von Frauen und Männern zutrifft. Ist es die Suche nach Anerkennung? Dann müsste der Autor oder die Autorin wohl den Mut haben, mit vollem Namen hinter dem Artikel zu stehen. Insofern ist die Kritik der Trump-Adlaten zulässig, die den Verfasser einen «Feigling» nennen. Wollte er oder sie dem Rest des Landes versichern, dass sich niemand Sorgen machen müsse? Dann hat der Autor wohl nicht mit der heftigen Reaktion des Präsidenten gerechnet, der nun insinuiert, da habe jemand Landesverrat begangen. Oder wollte der «Senior Official» Trump zu einer unüberlegten Handlung provozieren, um sozusagen die These des Meinungsbeitrages unter Beweis zu stellen?
Sämtliche Optionen lassen den Beobachter mit einem unguten Gefühl zurück. Denn Trump wurde in einem demokratischen Verfahren an die Spitze der amerikanischen Regierung gewählt – obwohl dieses Verfahren natürlich nicht fehlerfrei ist. Dass er kein Präsident sein würde, der sich mit Dwight Eisenhower oder Gerald Ford oder Barack Obama vergleichen lässt, war der amerikanischen Bevölkerung sattsam bekannt. Ist es deshalb zulässig, sein Programm zu sabotieren? Und was ist, wenn sich ein demokratischer gewählter Herrscher plötzlich zu einem Politiker entwickelt, der lobende Worte für nordkoreanischen Tyrannen findet, aber ständig amerikanische Verfassungsnormen in Zweifel zieht? Ist es in diesem Falle zulässig, sich einem internen Widerstand anzuschliessen?
Fragen über Fragen. Vielleicht wäre es angebracht, die Standardwerke der Philosophen John Locke oder Max Weber zu Rate zu ziehen.