Flüchtlingskrise in Amerika
Überfordert mit dem Drama an der Grenze: Seit Joe Bidens Amtsantritt kommen so viele illegale Migranten wie noch nie zuvor

Fast 100'000 Menschen haben alleine im Februar versucht, illegal die US-Südgrenze zu überqueren. Das grösste Problem für die amerikanische Regierung: die tausenden unbegleiteten Kinder.

Renzo Ruf aus Washington
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9400 Kinder versuchten alleine im Februar, die US-Südgrenze zu überqueren. Die meisten von ihnen waren ohne Eltern unterwegs.

9400 Kinder versuchten alleine im Februar, die US-Südgrenze zu überqueren. Die meisten von ihnen waren ohne Eltern unterwegs.

Bild: Getty (Brownsville, 26. Februar 2021)

Normalerweise treffen sich im Konferenzzentrum von Dallas, Texas, Fitnessbegeisterte oder Lastwagen-Fans. Doch nun wird ein Teil des weitläufigen Komplexes in eine Notunterkunft verwandelt: Diese Woche will die Katastrophenschutzbehörde Fema in der Halle F temporär 3000 illegal eingewanderte Buben aus Mittel- oder Südamerika unterbringen.

Nötig wird diese drastische Massnahme, weil die Grenze zwischen Mexiko und Amerika derzeit von Migranten buchstäblich überrannt wird. Und weil das Grenzwachtkorps (die Border Patrol) zunehmend überfordert scheint mit der Unterbringung der Menschen. Alleine im Februar haben die Grenzwächter 96974 Menschen an der illegalen Einreise gehindert. Das sind gut dreimal mehr als im Februar des vergangenen Jahres, als Donald Trump noch im Weissen Haus sass.

Sicherheitsminister Alejandro Mayorkas sagt, die Lage sei schwierig.

Sicherheitsminister Alejandro Mayorkas sagt, die Lage sei schwierig.

AP

«Die Lage ist schwierig», räumte der neue Sicherheitsminister Alejandro Mayorkas am Dienstag ein. Nicht zuletzt deshalb, weil Schlepperbanden laut der «New York Times» den migrationswilligen Menschen in Lateinamerika erzählen würden, dass die neue US-Regierung alle Ankömmlinge mit offenen Armen empfangen würde.

9400 Kinder versuchten im Februar ihr Glück, alleine

Das falsche Versprechen und die durch die Pandemie in vielen Ländern Lateinamerikas noch einmal deutlich verschlechterte Lage führen zu neuen Rekordzahlen an der mexikanisch-amerikanischen Grenze. In diesem Fiskaljahr, das im Oktober begonnen hat, würden voraussichtlich mehr Menschen an der Grenze ergriffen als je zuvor, sagte Sicherheitsminister Mayor­kas. Er versprach aber, dass die Regierung von Joe Biden die Krise bewältigen werde.

Einfach ist dies allerdings nicht. Mayorkas betonte zwar, dass «die meisten» Migranten umgehend nach Mexiko oder in ihr Heimatland ausgewiesen würden, mit Verweis auf die Pandemie. Jeden Tag aber überschreiten auch Hunderte von Kindern ohne Begleitung von Erwachsenen die 3145 Kilometer lange Grenze. Und diese Migranten – 9400 allein im vergangenen Monat – kann und will die Regierung Biden nicht in ihre Heimat zurückspedieren.

Hinzu kommt, dass die Behörden dazu verpflichtet sind, die an der Grenze ergriffenen Kinder nach 72 Stunden freizulassen. Diese Vorgabe bereitete schon Präsident Trump Kopfzerbrechen. Der Versuch, sie auszuhebeln, führte 2018 zu einer dramatischen Zuspitzung der Lage an der Grenze. Als sich die Bevölkerung über Fotos empörte, auf denen Kinder zu sehen waren, die in Käfigen festgehalten wurden, musste Trump zurückbuchstabieren.

Biden steckt in einem ähnlichen Dilemma. Einerseits setzt er alles daran, einen Kontrast zu seinem Vorgänger zu bilden – auch, weil der linke Flügel seiner Partei auf einen solchen Kurswechsel besteht. Andererseits will sich Biden in der Einwanderungspolitik nicht allzu stark exponieren. Deshalb schickte der Präsident vorige Woche die Sondergesandte Roberta Jacobsen vor, die im Weissen Haus an einer Pressekonferenz auf Spanisch sagte: «La frontera está cerrada», die Grenze sei geschlossen.

Migrantenfamilien zelten bei kaltem Wetter in der mexikanischen Grenzstadt Tijuana.

Migrantenfamilien zelten bei kaltem Wetter in der mexikanischen Grenzstadt Tijuana.

EPA

Zwar ist es unklar, ob der Vorwurf der Republikaner, die Demokraten wollten eine Welt ohne Grenzen schaffen, in der breiten Bevölkerung wirklich verfängt. Aber Parteifreunde Bidens, die in Washington strukturkonservative Wahlbezirke vertreten, haben kein Interesse an einem entsprechenden Experiment und seinen politischen Folgen.

Unangenehme Tatsache für Amerika

Aus dem Weg räumen liesse sich das Problem bloss, wenn sich Demokraten und Republikaner im Parlament auf eine Reform der Einwanderungsgesetze verständigen würden. Die Chancen auf einen solchen Durchbruch sind aber gering. Zwar will das Repräsentantenhaus diese Woche den ersten Schritt für einen Umbau der komplexen Vorschriften wagen. Im Senat, in dem die Demokraten nur eine knappe Mehrheit stellen, werden die beiden Vorlagen wohl aber auf Grund laufen.

Nach dem schnellen Erfolg mit dem 1,9 Billionen-Dollar-Hilfspaket muss die neue Führungsriege in Washington einer unangenehmen Tatsache ins Auge blicken, wie es der demokratische Senator Richard Durbin auf den Punkt brachte: «Es gibt nicht für alle Probleme, mit denen sich Amerika konfrontiert sieht, eine schnelle und einfache Antwort.»