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Am Sonntag werden Hunderttausende in ganz Russland auf die Strasse gehen. Sie werden die Freilassung des Kremlkritikers Nawalny fordern - und das politische Ende von Wladimir Putin. Wie bedrohlich ist die Lage für den Präsidenten? Sechs Thesen zu den Protesten in Russland.
Geht es nach Alexej Nawalny, war der vergangene Samstag nur ein Vorgeschmack: «Habt keine Angst, geht auf die Strasse», rief der inhaftierte Kremlkritiker Anfang Woche noch im Gerichtssaal in eine Kamera.
Hunderttausende demonstrierten bereits vor einer Woche für die Freilassung des Oppositionellen und gegen Präsident Wladimir Putin. Diesen Sonntag sollen es noch mehr werden. Sechs Beobachtungen zum möglichen Beginn eines politischen Umbruchs in Russland.
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Die Ausgangslage erinnert an David gegen Goliat: Alexej Nawalny und seine kleine Mannschaft gegen den allmächtigen Staatspräsidenten und seinen Sicherheitsapparat. Eigentlich sollte es für Wladimir Putin ein Leichtes sein, den Oppositionellen kaltzustellen.
Doch egal was Putin bislang versuchte – mehrere Verhaftungen, vorgeschobene Gerichtsprozesse, zuletzt gar ein Mordanschlag, den Nawalny dem russischen Geheimdienst zuschreibt – Nawalny ist noch da. In diesen Tagen stärker als je zuvor, obwohl er in einer Gefängniszelle in Moskau sitzt.
Die Vergiftung im August und letztlich die Inhaftierung des Oppositionellen nach dessen freiwilliger Rückkehr nach Russland waren die letzten Tropfen, die den Borschtsch zum Überlaufen brachten: In 100 Städten strömten die Menschen am vergangenen Samstag auf die Strassen. Hunderttausende protestierten – so viele wie seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr. Der Sicherheitsapparat reagierte mit Härte. Tausende wurden verhaftet. Putin spielt die Ereignisse in gewohntem Ton herunter. Doch ignorieren kann er die Proteste nicht.
Vor allem deshalb, weil der letzte Samstag wohl nur der Auftakt war: Für diesen Sonntag hat Nawalny die Menschen aufgerufen, in ganz Russland auf die Strasse zu gehen. Bemerkenswert sind vor allem zwei Aspekte: Dass sich der Protest nicht auf Moskau beschränkt, sondern im ganzen Land stattfindet. Und dass es plötzlich ganz normale Menschen sind, die ihren Unmut ausdrücken wollen: Laut einer Umfrage unter den Protestierenden in Moskau nahmen 40 Prozent zum allerersten Mal an einer Demo teil.
Alexej Nawalny kämpft seit vielen Jahren gegen die Korruption des Putin-Regimes. Dass in Putins Russland Vetternwirtschaft ein Stück weit zum Alltag gehört, vermag den Grossteil der Bevölkerung nicht mehr empören. Doch mit seinem Enthüllungsvideo über Putins angebliches Luxusanwesen am Schwarzen Meer, das auf Youtube inzwischen über 100 Millionen Mal angeklickt wurde, hat Nawalny einen Nerv getroffen.
Ein Zarenpalast mit Klobürsten für 1000 Franken pro Stück, während die meisten Russen mit einem Bruchteil dieser Summe einen ganzen Monat lang über die Runden kommen müssen? «Das ist zuviel», sagen viele. Mit möglicherweise anhaltenden Konsequenzen: «Nawalny hat den Kreml in Verlegenheit gebracht», sagt Brian Carlson, Russlandexperte vom Center for Security Studies der ETH Zürich.
Der Kontrast zwischen dem Schwarzmeer-Palast und den Alltagsproblemen vieler Menschen in Zeiten anhaltender wirtschaftlicher Stagnation sei ungünstig für den Kreml, so Carlson. Auf längere Sicht stelle dies eine Gefahr für die Legitimität des Regimes in den Augen der Öffentlichkeit dar.
Sämtliche Versuche Putins, seinen schärfsten Kritiker ruhigzustellen, machten diesen nur noch stärker. Mit jedem Gefängnisaufenthalt steigt Nawalnys Popularität. Der Kreml spielt das Ausmass der Proteste, genau wie die Bedeutung Nawalnys, zwar herunter. Putin selbst nimmt Nawalnys Namen gar nicht in den Mund. Doch dem Kremlchef ist freilich nicht verborgen geblieben, wie viele Menschen Nawalny und seine Leute binnen kurzer Zeit mobilisieren können.
Was also tun mit dem lästigen Oppositionellen? Den Anführer der Proteste auf freien Fuss kommen lassen? Oder weiter einsperren und zum Märtyrer machen? Putin hat die Wahl zwischen zwei – für ihn – schlechten Lösungen.
In die Defensive hat Nawalny Putin mit seiner Rückkehr ohnehin längst gedrängt. Denn das Bild, das haften bleibt, ist dieses: Nawalny, der todesmutige Oppositionelle, kehrt nach überlebtem Mordanschlag in die Höhle des Löwen zurück und kämpft weiter für seine Überzeugungen. Auf der anderen Seite der alternde Putin, wie ihn Nawalny darstellt, der sich in seinem Bunker ausserhalb Moskaus versteckt und Videoansprachen hält.
Der Kreml ist sicher, dass er die Proteste mit seinem riesigen und knallhart vorgehenden Sicherheitsapparat in den Griff bekommt. Die Führung in Moskau ist zudem überzeugt, die Mehrheit der Menschen immer noch hinter sich zu haben. Dafür sorgt vor allem die staatliche Propaganda: Das Fernsehen, das in Russland nach wie vor die mit Abstand wichtigste Informationsquelle der meisten Bürger darstellt, ist fest in Kreml-Hand.
Überdies hat Putin über die Jahre hinweg grossen Eindruck mit seiner aggressiven Aussenpolitik hinterlassen: In den Augen vieler Russen hat er es geschafft, Russland wieder als wichtigen Akteur auf der Weltbühne zu etablieren. Die Frage ist, wie lange er von den vergangenen «Erfolgen» wie der völkerrechtlich illegalen Eroberung der ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim zehren kann. Denn wirtschaftlich kommt Russland unter Putin nicht vorwärts.
Den Menschen fehlt es an vielem. Es ist davon auszugehen, dass die Unzufriedenheit in der Bevölkerung längst nicht bei jenen Hunderttausenden aufhört, die ihren Unmut am letzten Samstag auf der Strasse kundtaten.
Trotz steigender Unzufriedenheit im Volk, kann sich Putin auf eines verlassen: Seine «Machtvertikale». Der Kremlchef hat über viele Jahre ein hierarchisch angelegtes System aufgebaut. Macht und oftmals auch finanzielle Möglichkeiten der Personen auf den tieferen Stufen, hängen jeweils von der Person über ihr ab. Ganz oben steht Putin selbst. Dieses System ist nach wie vor intakt.
Ein entscheidender Pfeiler für Putins Machterhalt sind zudem die Sicherheitsorgane. Auch diese stehen weiter hinter dem Staatschef. Trotz Internet hat der Kreml immer noch relativ viel Kontrolle über die Medien im Land. So lässt sich auch die Botschaft unters Volk bringen, Nawalny sei ein Agent des Westens und habe das Ziel, Russland zu destabilisieren. Bei vielen, vor allem älteren Russen, verfängt sie.
Putin profitiert allerdings auch davon, dass er im Ausland gut geschäften kann. Trotz gewaltsamer Unterdrückung der Opposition bleibt die Reaktion gerade aus Europa überschaubar. Zwar halten die europäischen Staaten an den Sanktionen fest, die nach dem Überfall auf die Ukraine verhängt wurden. Doch Putin tun diese kaum weh.
Stattdessen setzt sich etwa die deutsche Kanzlerin Angela Merkel für die Gas-Pipeline Nord Stream 2 ein – trotz massiven Drucks, vor allem aus den USA, die das Projekt lieber heute als morgen stoppen möchten. Vor allem in Deutschland ist das Verständnis für Putin gross: Mit Altkanzler Gerhard Schröder hat der russische Präsident einen bekannten Fürsprecher.
Wenn am kommenden Sonntag erneut Hunderttausende dem Aufruf Alexej Nawalnys folgen und auf die Strasse gehen, wird das das «System Putin» nicht von heute auf morgen zum Einsturz bringen. «Alarmiert» sei der Kreml ob der Proteste nicht, sagt Brian Carlson von der ETH. «Besorgt» allerdings sehr wohl. «Das Momentum, das Nawalny und seine Bewegung über viele Jahre hinweg aufgebaut haben, ist eine wachsende Sorge», so Carlson.
Spannend wird sein, ob es Nawalny gelingt, die versprengte russische Opposition hinter sich zu vereinen. Carlson hält das durchaus für möglich. Nawalny sei «bei weitem der charismatischste und bekannteste Oppositionelle». Die Frage sei, ob er seine Anhängerschaft, die vor allem aus jungen, gebildeten Städtern besteht, ausdehnen kann. Im ländlichen Raum geniesst Putin nach wie vor viel Zustimmung. Mit jedem Schritt, den die Bewegung um Nawalny in diesen Raum vordringt, wächst die Bedrohung für Putin und sein System.