Der bereits inhaftierte Kremlkritiker Alexej Nawalny wurde in einem Schauprozess zu zusätzlichen neun Jahren Haft verurteilt. Seine Mitstreiter befürchten, dass er das Gefängnis nie mehr verlässt.
Für jemanden, der in einer russischen Strafkolonie einsitzt, redet Alexej Nawalny erstaunlich viel - und vor allem deutlich: Ende Februar rief der Putin-Gegner seine Landsleute aus dem nahe Moskau gelegenen Gefängnis zum Widerstand gegen den «verrückten Zar» auf.
Jeden Tag müsse man auf die Strasse gehen und gegen den Krieg in der Ukraine protestieren, forderte Nawalny: «Wo immer ihr seid, ob in Russland, Weissrussland oder auf der anderen Seite des Planeten». Dies, auch wenn man dafür in die Arrestzelle wandere.
8/12 We cannot wait any longer. Wherever you are, in Russia, Belarus or on the other side of the planet, go to the main square of your city every weekday and at 2 pm on weekends and holidays.
— Alexey Navalny (@navalny) March 2, 2022
Der Aufruf wurde natürlich nicht von Nawalny selbst, sondern via seine Anwälte verbreitet. Ihnen diktiert Nawalny seine Twitter- und Instagram Botschaften, die auch ein Jahr nach seiner Verhaftung noch immer Millionen erreichen.
Dass Nawalny, der im August 2020 nur knapp einen Mordanschlag mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok überlebt hatte, nun definitiv zum Schweigen gebracht werden soll, zeigt das am Dienstag gesprochene Gerichtsurteil.
In einem von Beobachtern als «Farce» beschriebenen Verfahren wurde der 45-Jährige wegen «Veruntreuung von Spendengeldern» zu einer weiteren Haftstrafe von neun Jahren verdonnert. Und zwar unter besonders harten Bedingungen, wie es in der Anordnung heisst.
Weil er und seine Mitstreiter von den russischen Behörden Ende Januar aber offiziell als «Terroristen» und «Extremisten» eingestuft wurde, könnten es gut auch noch einige Jahre mehr werden. Im Klartext heisst das: Die Gefahr steigt, dass der zweifache Vater das Gefängnis nie mehr verlassen wird. Das befürchtet auch seine Sprecherin Kira Jarmysch. Oder zumindest so lange, wie Präsident Wladimir Putin noch an der Macht ist.
Wie viel Nawalnys Kampagne aus dem Gefängnis in der russischen Öffentlichkeit bewirkt, ist wie so vieles in Putins-Russland von aussen kaum abzuschätzen. Zwar kommt es in zahlreichen russischen Städten zu Protestaktionen, die von den Sicherheitskräften brutal abgewürgt werden.
Seit Kriegsbeginn sollen laut Angaben von Bürgerrechtlern über 15000 Personen verhaftet worden sein. Selbst dann, wenn sie sich bloss mit einem weissen, leeren Schild auf einen öffentlichen Platz stellen. Aber die von Nawalny geforderten grossen Massenproteste blieben aus.
Police in Nizhny Novgorod arrested a demonstrator today for protesting with a blank sign. Welcome to Russia in 2022. pic.twitter.com/YprwDqex8V
— Kevin Rothrock (@KevinRothrock) March 12, 2022
Das liegt auch daran, dass Nawalny im Westen mehr Aufmerksamkeit erhält als in seiner Heimat selbst. Ob er in einem möglichen Russland nach Wladimir Putin eine zentrale Rolle spielen würde, ist fraglich. Er schart zwar eine aktive, schlagfertige Truppe aus jungen Aktivisten um sich und pflegt ein weit verzweigtes Netzwerk.
Der breiteren russischen Gesellschaft ist er aber weniger geläufig und jene, die ihn kennen, trauen ihm oft nicht. Für viele, gerade ältere Russen, gilt Nawalny als Marionette des Westens. So wird er in den gleichgeschalteten russischen Medien denn auch seit Jahren dargestellt: Als Agent einer fremden Macht. Trotzdem muss man ihn als den wirkmächtigsten Politiker der russischen Opposition beschreiben.
Dies schon durch die Tatsache, dass abgesehen von der eingebundenen «Systemopposition» nach über 20 Jahren Putin-Herrschaft kaum mehr etwas von einer wirklichen Gegenbewegung vorhanden ist.
Viel wird auch gerätselt darüber, was denn genau Nawalnys politisches Programm umfassen würde, wäre er irgendwann wieder einmal zu einer Wahl zugelassen. In den letzten Jahren hat er sich in erster Linie als anti-Korruptionsaktivist und mit seiner mittlerweile verbotenen Regionalorganisation als Putins Angstgegner in Stellung gebracht.Auf inhaltliche Positionsbezüge vermied er aber bewusst.
Dass auch er als «russischer Nationalist» eingestuft werden kann, zeigen Aussagen aus der Vergangenheit. 2008 befürwortete er beispielsweise mit deutlichen Worten die russische Invasion in Georgien und als Regierungschef würde auch er den Ukrainern die Krim wohl nicht zurückgeben.
In der ersten deutschsprachigen Biografie, die vergangenes Jahr erschienen ist, wird Nawalny als vielschichtiger Politiker beschrieben, der in seinem Leben schon so einige Kurswechsel vollzogen hat. Als junger Mann trat er der liberalen Partei Jabloko bei. Später machte er mit den Rechtsnationalisten gemeinsame Sache und fiel mit rassistischen Aussagen gegen Zuwanderer aus Zentralasien und dem Kaukasus auf. In den letzten Jahren gab er sich hingegen betont als eingemitteter Demokrat, der sich für eine pluralistische Gesellschaft einsetzt.
Ungeachtet seiner politischen Ambivalenz und dem Rätselraten über seine wahren Überzeugungen sind sich die meisten Beobachter einig, dass Nawalny mit seinem Kampf gegen die korrupte russische Elite vor allen Dingen aber eines ist: Die zentrale, weil sichtbarste Symbolfigur im Widerstand gegen das «System-Putin». Seine erneute Verurteilung und alle weiteren, die noch folgen könnten, werden diesen Status zementieren.