Tunesien
Nach Attentaten: So instabil ist das Land im Maghreb

Die Attentate von Sousse und Tunis illustrieren, wie labil die Lage in dem nordafrikanischen Land ist, obwohl es das einzige Land ist aus dem Arabischen Frühling, das Schritte Richtung Demokratie unternahm.

Artur K. Vogel
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Berittene Polizisten bewachen den Strand von Sousse.

Berittene Polizisten bewachen den Strand von Sousse.

KEYSTONE

Tunesiens Sicherheitsorgane haben bei zwei Terroranschlägen jämmerlich versagt. War es Schlamperei? Oder haben sich islamistische Extremisten in Sicherheitsbehörden eingenistet? Diesen Verdacht äussern tunesische Kommentatoren ebenso wie algerische Militärs.

Tunesien ist der einzige Staat, der im «Arabischen Frühling» dezidierte Schritte Richtung Demokratie unternahm. Die Demokratisierung schwemmte allerdings islamische Extremisten an die Macht: Aus den Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung im Oktober 2011 ging die Ennahda («Wiedergeburt») mit 90 von 217 Sitzen als stärkste Partei hervor.

Die gleichen Ziele wie der IS

Die Partei gab sich konservativ-islamisch, doch bald kamen ihre salafistischen Züge zum Vorschein: Am 13. November 2011 zum Beispiel drückte Generalsekretär Hamadi Jebali in Sousse die Hoffnung auf ein «sechstes Kalifat» aus. Ennadha verfolgt also dasselbe Ziel wie die Terrororganisation «Islamischer Staat» (IS), wenn auch nicht mit denselben Mitteln.

Am 24. Dezember 2011 wurde Hamadi Jebali Ministerpräsident; die Islamisten begannen mit dem Umbau des Staates und der Sicherheitsdienste. Ihre politischen Gegner gerieten unter Druck, der 2013 in der Ermordung der Anführer der Linken – Chukri Belaid und Mohammed Brahmi – gipfelte. Erst unter massiven Protesten machten die Islamisten 2014 einer Regierung von Technokraten Platz. Ende 2014 wurde Beji Caid Essebsi Staatspräsident, nachdem seine säkulare Partei Nidaa Tounes (der «Ruf Tunesiens») die Parlamentswahlen gewonnen hatte.

Doch die Ennadha soll die Jahre an der Macht genutzt haben, um die Sicherheitsorganisationen zu unterwandern. Das hatten schon die später ermordeten Linkspolitiker behauptet, und das behaupten tunesische Kommentatoren bis heute. Auch der Nachrichtendienst des Nachbarlandes Algerien ist überzeugt, dass es eine Komplizenschaft zwischen radikalen Islamisten und Elementen im tunesischen Sicherheitsapparat gebe.

Aus Libyen importierter Terror?

Spätestens das Attentat am Strand von El Kantaoui bei Sousse am 26. Juni illustrierte, wie labil die Lage ist. Staatspräsident Beji Caïd Essebsi schlug vor zehn Tagen Alarm: Er verhängte den Ausnahmezustand und erklärte: «Der Staat könnte auseinanderfallen, sollte er ein weiteres Attentat erleben.» Essebsi behauptet zwar, Tunesien kenne «keine Kultur des Terrorismus». Er verweist auf die chaotischen Zustände in Libyen, wo der Attentäter von El Kantaoui ebenso ausgebildet wurde wie die Terroristen, die im März den Anschlag auf das Bardo-Museum in Tunis verübten.

Doch der Theorie vom nach Tunesien importierten Dschihad widersprechen viele Faktoren. Eine Delegation des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte hat Tunesien vom 1. bis 8. Juli erkundet. Fazit: 4000 Tunesier kämpfen in Syrien, 1000 bis 1500 in Libyen, 200 im Irak, 60 in Mali und 50 im Jemen; Tunesien sei damit eines der wichtigsten Herkunftsländer ausländischer Dschihadisten. 625 von ihnen sind laut dem UNO-Bericht zurückgekehrt – eine tickende Bombe.

35 Minuten dauerte es am 26. Juni, ehe der Attentäter Seifeddine Rezgui ausgeschaltet wurde. In aller Ruhe hatte er zuvor 38 Touristen massakriert und ebenso viele schwer verletzt. Noch nach diesem Attentat behauptete Ministerpräsident Habib Essid. «Diese kriminelle Attacke war nicht vorhersehbar. Dass Rezgui auf Facebook Werbung für den «Islamischen Staat» gemacht hatte, blendete Essid aus, ebenso, dass die Sicherheitskräfte spätestens seit Mai vor einem bevorstehenden Attentat in Sousse gewarnt waren – und nichts unternahmen.

Seit dem Bardo-Attentat wurden zwar 8000 Hausdurchsuchungen durchgeführt und 120 Verdächtige verhaftet. Doch erst nach dem Massaker von Sousse wurden 80 illegal eröffnete Moscheen geschlossen. In 40 Moscheen fanden sich Waffenlager. Seit Ende Juni sind zudem mehrere hohe Polizei- und andere involvierte Beamte entlassen worden.

Alles nur Schlamperei?

Viele Tunesier zweifeln, dass die Untätigkeit der Behörden auf Schlamperei zurückzuführen ist. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Aussagen von Abdelaziz Kotti; er ist Parlamentsabgeordneter der mitregierenden Nidaa Tounes: «Die Parallelpolizei ist immer noch präsent», sagte er. «Falls es uns mit dem Krieg gegen den Terrorismus ernst ist, müssen wir zuerst das Innen- und das Verteidigungsministerium säubern.» Ministerpräsident Essid hat die Existenz dieser klandestinen Parallelorganisation schon im April bestritten. Doch gleichzeitig räumte er ein, dass «Leute entlassen werden mussten, denen Loyalität gegenüber früheren Ministern (das heisst der Islamisten) nachgewiesen werden konnte».

Die Bloggerin Sonia Bahi zitierte am 4. Juli einen früheren Verantwortlichen für die innere Sicherheit mit den Worten, im Innenministerium herrsche «totale Anarchie», und «der politische Wille fehlt, um die umfassende Korruption und den Mangel an Disziplin zu bekämpfen». Andernorts fehlte dieser Wille nicht: Im Ramadan, kurz vor dem angekündigten Attentat, taten sich tunesische Polizisten dadurch hervor, dass sie in Cafés und Restaurants die Einhaltung der islamischen Fastenregeln durchsetzten. Derweil sonnten sich Touristen ohne Polizeischutz an den Stränden von Hammamet, Djerba und El Kantaoui. Jetzt ist es umgekehrt: Polizisten sind präsent, dafür kaum mehr Touristen.