EU-Austritt
Morddrohungen, Erschöpfung, Alkohol: Brexit macht britischen Abgeordneten schwer zu schaffen

Sebastian Borger, London
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Auf der Insel gehts laut zu und her: Brexit-Befürworter vor dem Regierungssitz in London.

Auf der Insel gehts laut zu und her: Brexit-Befürworter vor dem Regierungssitz in London.

REUTERS

Wie gut, dass der neugotische Palast von Westminster so verwinkelt ist. Das bietet erschöpften Abgeordneten wie Andrew Percy Schlupflöcher zum Ausruhen. Er habe da, vertraute der Abgeordnete aus dem nordenglischen Städtchen Brigg jetzt Londoner Medien an, ganz in der Nähe des Plenarsaals eine unbenutzte Abstellkammer gefunden. «Ich mache die Tür hinter mir zu, lösche das Licht und hänge mir das Jackett über den Kopf.» 20 Minuten Abschalten, das reiche schon, um die nächste Runde im Brexit-Abstimmungsmarathon aushalten zu können.

Grossbritannien macht dieser Tage manchmal den Eindruck einer Nation am Rande des Nervenzusammenbruchs. Dass seit Monaten der Streit über den besten Weg zum EU-Austritt die politische Debatte dominiert, ja monopolisiert, wirkt sich auf das psychische Gleichgewicht vieler Briten nicht positiv aus. «Wir sind ganz überwiegend ein Land von Pessimisten geworden», glaubt Rosie Carter von der Lobby-Gruppe Hope not Hate nach der Auswertung zahlreicher Meinungsumfragen.

Dabei hatte der knappe Brexit-Entscheid vom Juni 2016 (52:48 Prozent) zunächst wenigstens in einigen Landstrichen für gute Stimmung gesorgt. Bewohner von Städten wie Brigg oder Boston in der Grafschaft Lincoln, wo bis zu 70 Prozent den Austritt befürworteten, hatten sich vor 2016 als Pessimisten zu erkennen gegeben, stuften sich anschliessend aber als Optimisten ein. Das umgekehrte Phänomen beobachteten die Meinungsforscher in überwiegend EU-freundlichen Grossstädten wie Bristol oder Edinburgh.

Längst ist die Fröhlichkeit der Brexit-Befürworter verflogen; hingegen hält bei den Gegnern des Austritts der tiefsitzende Unmut an. Zumal wichtige Positionen in der politischen Debatte gar nicht vorkommen, argumentiert die «Guardian»-Autorin Zoe Williams: «Wenn Sie die Personenfreizügigkeit gut finden und staatliche Souveränität für überschätzt halten, stehen sie nicht nur ausserhalb der grossen Parteien und der politischen Debatte. Sie sind praktisch ein Staatenloser in Brexitland.»

Wirtschaft leidet

Viele Berufsgruppen beklagen den lähmenden Effekt der Unsicherheit auf ihre Branche und damit indirekt auch auf ihre Job-Zufriedenheit. Im Nationalen Gesundheitssystem NHS hat die Abwanderung von EU-Ausländern die ohnehin bestehenden Personallücken vergrössert, mit entsprechender Mehrbelastung der verbleibenden Pfleger und Ärztinnen. Der Immobilienmarkt ist vielerorts zum Erliegen gekommen. Unternehmer ärgern sich über die Mehrkosten durch höhere Lagerhaltung, schrecken zudem vor wichtigen Investitionen zurück.

Die Lobbygruppe Make UK, der 20'000 Unternehmen der verarbeitenden Industrie angehören, forderte am Sonntag eine rasche Lösung des Brexit-Dilemmas. Falls Premierministerin Theresa May bis Ende dieser Woche keine Mehrheit für ihr Verhandlungspaket erziele, müsse das Land «den EU-Austrittsantrag zurücknehmen», fordert Geschäftsführer Stephen Phipson von Make UK.

Diese Möglichkeit brachte auch Labours wirtschaftspolitische Sprecherin Rebecca Long-Bailey ins Spiel. Sie gehört zum Verhandlungsteam der grössten Oppositionspartei unter Jeremy Corbyn, das seit Mittwoch mit Regierungsmitgliedern über mögliche Auswege verhandelt. Am Montag war aber kein weiteres Gespräch geplant.

Ein möglicher Kompromiss dreht sich um die Verankerung einer Zollunion mit der EU im eigentlichen Austrittsvertrag, der eigentlich von Brüssel und London gleichermassen als nicht neu verhandelbar gekennzeichnet wurde. Aus Labours Sicht reicht aber eine Absichtserklärung in der politischen Erklärung nicht aus: Die Opposition fürchtet, nicht ganz zu Unrecht, die Hinwendung der konservativen Regierungspartei zu einem deutlich härteren Brexit, sobald May wie angekündigt im Sommer ihr Amt verlassen hat. Der Favorit auf die Nachfolge, Boris Johnson, bezeichnete jeden Kompromiss mit Labour am Montag als «Kapitulation».

Genau solchen Kraftausdrücken möchte eine Gruppe von rund 50 gemässigten Tory-Abgeordneten einen Riegel vorschieben. Zu Beginn einer Sitzungswoche, in der den Bürgern des Planeten Westminster wieder heftige Debatten bevorstehen, appellierten sie an die Kollegen, nicht zuletzt in der eigenen Fraktion, die überhitzte Rhetorik zurückzuschrauben. Vor allen Dingen sei es wichtig, «alle Anspielungen auf den Zweiten Weltkrieg und das Gerede von ‹Verrat und Verrätern› zu unterlassen», glaubt Nicky Morgan, die Vorsitzende des Finanzausschusses. Ähnlich argumentierte vergangene Woche auch der Leiter der Koordinatorengruppe sämtlicher Polizeiführer im Land, Martin Hewitt: «Wir sollten mit unseren Äusserungen Mass halten, um die Spannungen nicht zu erhöhen.»

Die Leiden der Abgeordneten

Das fällt vielen schwer. Der Brexit-Ultra Mark Francois hat seine harte Haltung gegenüber jedem Kompromiss mit der EU nicht nur mehrfach mit dem Krieg gegen Nazi-Deutschland verglichen. Nach einer knapp verlorenen Abstimmung zitierte er im Unterhaus auch Jesu Worte am Kreuz: «Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.» Als Christ habe er das gerade in der Passionszeit «zutiefst anstössig» gefunden, gab tags darauf Labour-Veteran Barry Sheerman zu Protokoll und erhielt Zustimmung von Speaker John Bercow: «Sprachliches Masshalten kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.»

Schlafstörungen, verändertes Essverhalten, Tränen im Plenarsaal – viele seiner Kollegen, lautet die Beobachtung des Arztes und Tory-Abgeordneten Phillip Lee in der «Financial Times», würden «erkennbar mit sich ringen». Andrew Percy spricht nach eigener Einschätzung deutlich häufiger dem Alkohol zu, was seiner ohnehin stämmigen Figur nicht guttut. Fraktionskollege Huw Merriman muss sich die Anzüge hingegen enger machen lassen: Er habe binnen kurzem zehn Zentimeter Bauchumfang verloren, berichtete der Parlamentarier der BBC und machte vor allem dauernde Beleidigungen von Bürgern dafür verantwortlich.

Deutlich mehr als Beleidigungen müssen viele weibliche Abgeordnete ertragen. Einen Mordanschlag auf Rosemary Cooper vereitelte die Kriminalpolizei, Morddrohungen sind für exponierte Frauen wie Anna Soubry von der neuen Partei Change UK oder Jess Phillips von Labour an der Tagesordnung. Kürzlich habe sie erstmals morgens «gar nicht aufstehen wollen», beklagt die sonst stets unverwüstlich wirkende Phillips.

Dass diese Gruppe gestresster Menschen ruhige, wohlinformierte Entscheidungen treffen könne, glaubt Doktor Lee, «das ist natürlich Unsinn».