Ein Jahr nach der grössten nicht-nuklearen Explosion der Menschheitsgeschichte ist das Entsetzen im Libanon der Verzweiflung gewichen. Immerhin zwitschern die Vögel wieder.
Melissa Fathallah erinnert sich noch genau an die Stromkabel, die am Abend des 4. Augusts 2020 überall im Stadtviertel Gemmayzeh unweit des Hafens von Beirut herunterhingen. «Sie sahen aus wie die schwarzen Tentakel eines Monsters», sagt sie. Menschen lagen zwischen Trümmern und Autowracks in Blutlachen. Es war ein Albtraum aus Rot und Schwarz, Stöhnen und Schreien, durch den Fathallah sich ihren Weg bahnen musste.
Fathallah selbst versuchte an jenem Abend zum Hotel Em Nazih zu gelangen. Dort hätte sie an jenem Abend an der Rezeption arbeiten sollen. Doch Fathallah blieb an jenem Abend wegen einer Unpässlichkeit etwas länger zu Hause. Sie verspätete sich – und entging deshalb ganz knapp der Katastrophe.
Um 18:07 Uhr explodierten im Hangar 12 am Beiruter Hafen unweit von Fathallahs Arbeitsort mehrere hundert Tonnen Ammoniumnitrat, ein hochexplosiver Düngemittelzusatz. Die Schockwelle, die über die Stadt hinweg rollte, liess in einem Radius von zehn Kilometer die Fenster der Häuser und Autos zerbersten.
6000 Menschen wurden verletzt, 200 verloren das Leben, über 100 werden vermisst und mehr als 300'000 verloren zumindest zwischenzeitlich ihr Obdach. Vögel seien tot vom Himmel gefallen, erzählen die Beiruter. Erst Monate später hätten sie frühmorgens wieder gezwitschert.
Die grösste nicht-nukleare Explosion der Menschheitsgeschichte hat Sachschäden von geschätzten zehn Milliarden US-Dollar verursacht, der psychologische Schaden lässt sich nicht beziffern. Zum Glück für Beirut explodierten laut einer Untersuchung der amerikanischen Bundespolizei FBI «nur» 552 Tonnen Ammoniumnitrat und nicht – wie ursprünglich angenommen – die ganzen 2700 Tonnen, die vermeintlich am Hafen lagerten. Eine solche Explosion, sagen Experten, hätte die Stadt wohl dem Erdboden gleichgemacht.
Die Detonation traf das Land mitten in einer ohnehin schon schweren Krise. 2019 setzte eine massive Inflation ein, die dem von Importen abhängigen Land schwer zusetzte. Die Libanesen gingen in Scharen gegen die Eliten des Landes auf die Strassen – bis das Regierungsviertel brannte. Inzwischen lebt mehr als die Hälfte der Libanesen in Armut. Benzin, Strom und Medikamente sind knapp. Die Weltbank zählt die Situation im Land zu den zehn schlimmsten Wirtschaftskrisen seit den 1850er-Jahren.
An die Zukunft ihres Staates glaubt kaum noch jemand. Weder in der Stadt, noch auf dem Land. Ein Bauer im libanesischen Hinterland, wo Souvenir-Verkäufer seit zwei Jahren vergeblich auf Touristen warten und sich die Autos vor den Tankstellen stauen, sagt konsterniert: «Sogar während des Bürgerkriegs hatten wir es besser.» Mehr als drei von vier jungen Libanesen überlegen sich, die Heimat zu verlassen. Hunderte Ärzte und anderes medizinisches Personal haben dem Land bereits den Rücken gekehrt. Einige Verzweifelte stachen mit Fischerbooten ins Mittelmeer, um das 230 Kilometer entfernte Zypern zu erreichen.
Dabei ist der Libanon selbst ein Hafen für Geflüchtete. Rund 200'000 Palästinenser leben im Land, etwa 1,5 Millionen Syrer kamen seit Kriegsbeginn 2011 hinzu. Gut jeder Vierte der knapp sieben Millionen Einwohner ist ein Geflüchteter – so viele wie nirgendwo sonst auf der Welt. Aus der Notlage heraus müssen immer mehr Syrer ihre Kinder zur Arbeit schicken. Auf den Feldern im libanesischen Bekaa-Tal jäten bereits Sechsjährige. Von 7 bis 17 Uhr ackern manche Arbeiter dort in der Sonne, mit einer Stunde Pause, für einen Hungerlohn.
Es sind zu grossen Teilen internationale Hilfszahlungen, die den Libanon noch stützen. In besonderer Verantwortung sieht sich die ehemalige Kolonialmacht Frankreich. Wenige Tage nach der Explosion besuchte Präsident Emmanuel Macron den Libanon. Er versprach Hilfe – knüpfte diese aber an Bedingungen: Innerhalb von 15 Tagen sollte eine Regierung aus Technokraten die Geschäfte übernehmen, die Wahlen sollen vorgezogen und Reformen umgesetzt werden.
Ein gutes Jahr später hat sich kaum etwas getan. Weder gab es Wahlen oder Reformen, noch eine neue Regierung. Der designierte Ministerpräsident Saad Hariri trat zurück und erklärte die Regierungsbildung für gescheitert. Libanons christlicher Staatspräsident Michel Aoun ernannte am 26. Juli den sunnitischen Milliardär Nadschib Mikati zu Hariris Nachfolger. Wie sein Vorgänger ist Mikati Sunnit. Die Verfassung verlangt es so: Der Präsident des Libanons muss Christ sein und der Parlamentsvorsitzende Schiit.
Am Ende regierten immer die gleichen Personen aus denselben im Bürgerkrieg gebildeten Machtzirkeln, erklärt die Analystin Josiane Matar von der Carnegie Stiftung. Sie sagt, Libanons Machthaber seien nichts anderes als alte Kriegsherren, die ihre Kampfmontur gegen Anzüge getauscht hätten. Sie schürten mit Erfolg die Angst der Bevölkerung voreinander – selbst mitten in dieser schweren Krise an der Macht.
Die Analystin ist sich sicher, dass am Ende der Westen die Zeche für libanesische Regierung zahlen werde. Niemand wolle einen von der schiitischen Miliz Hisbollah kontrollierten iranischen Satellitenstaat am Mittelmeer. Die Miliz prahlt im Moment damit, den Libanesen Öl vom befreundeten Iran auf verborgenen Pfaden und an den internationalen Sanktionen vorbei besorgen zu können.
Der Libanon selbst hat noch ein ganz anderes Druckmittel in der Hinterhand, erklärt Analystin Josiane Matar. Das Land könne mit 1,5 Millionen syrischen Geflüchteten als Pfund wuchern. Matar sagt:
«Es ist klar, wo die hingehen werden, wenn sie im Libanon nicht mehr überleben können.»
Und so hat sich im Libanon ein Jahr nach der Explosionskatastrophe nichts geändert. Frankreich hat Geld an Organisationen im Libanon geschickt, obwohl die Regierung keine der Bedingungen erfüllt hatte. Wieso sollte sie auch. Zu gross ist die Angst des Westens vor einem gescheiterten Staat. Zu gross die Bereitschaft, Libanons Fall mit Finanzspritzen doch noch zu stoppen. Und der geschäftsführende Ministerpräsident Hassan Diab richtete Ende Juli noch folgende Worte an die internationale Gemeinschaft: «Wir stehen nur Tage vor einer sozialen Explosion.» Es klang wie eine Drohung.