In den Läden fehlts an frischem Obst, in den Spitälern an Personal. Bereits 88'000 Briten werden täglich in Isolation geschickt. Das bringt Spitäler und auch die Polizein in arge Personalnot.
Keine Erdbeeren im Supermarkt, kein Termin beim Hausarzt, keine Spurensicherung bei Einbruchsopfern: Englands neue Corona-Freiheit stellt das Land vor schwerwiegende logistische Probleme. Die schnell steigenden Neuinfektionen führen dazu, dass sich Millionen von Menschen, die mit einer infizierten Person in Kontakt kamen, für zehn Tage in häusliche Isolation begeben müssen. Das betrifft derzeit nicht nur Premier Boris Johnson und Labour-Oppositionsführer Keir Starmer, sondern viele Angestellte im öffentlichen Dienst und in Supermärkten.
Schon schlagen grosse Einzelhändler Alarm: Binnen 48 Stunden könnte es zu ernsten Versorgungsschwierigkeiten mit frischem Obst und Gemüse, kommen. Vor allem im Norden Englands und in den Midlands können zahlreiche Supermärkte ihren Kunden nichts mehr bieten als leere Regale.
Britische Medien sprechen bereits von einer «Ping-demie»: Das Wort spielt auf das Warngeräusch der Covid-App an, mit denen Nutzern der Kontakt zu einem positiv Getesteten mitgeteilt wird. Sie werden automatisch dazu aufgefordert, zehn Tage in Quarantäne zu verbringen. Bis Mitte vergangener Woche lag die Ping-Rate bei rund 88'000 Personen täglich.
Weil die konservative Regierung am Montag im grössten Landesteil England sämtliche gesetzlichen Covid-Einschränkungen abschaffte, rechnen Experten mit einem sprunghaften Anstieg: In den nächsten drei Wochen dürften bis zu vier Millionen Menschen betroffen sein. Die Zahl der Infizierten hat binnen Wochenfrist um fast 36 Prozent zugenommen. Klar gestiegen sind auch die Zahlen der Spitaleinweisungen sowie die gemeldeten Toten.
In wachsende Not geraten auch Eisenbahn und Müllabfuhr, Krankenhäuser und die Kriminalpolizei. Sie alle klagen wegen der vielen Zwangsisolierten über eine beunruhigende Knappheit beim Personal. Der Mineralölkonzern BP musste mangels Personal erste Tankstellen schliessen. In Liverpool und Leeds, Birmingham und Bristol blieb der Müll liegen.
Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng kündigte an, die Regierung werde eine Liste system-relevanter Berufe veröffentlichen. Die betreffenden Firmen und Behörden könnten dann für individuell benannte Angestellte eine Verkürzung der Isolation bis zu einem negativen PCR-Test beantragen.
Der frühere Gesundheitsminister Jeremy Hunt plädierte im Parlament derweil für eine Lockerung der Quarantäne-Vorschriften. All jene mit zweifacher Impfung sollten ab sofort trotz Kontakt mit einem Infizierten weiterarbeiten dürfen, solange sie täglich einen negativen Antigen-Test vorweisen können.
Diese Möglichkeit wird derzeit in einem Testverfahren mit Freiwilligen geprüft. Die Regierung hat allerdings mitgeteilt, an der bisherigen Regelung werde sich frühestens Mitte August etwas ändern, Testergebnisse hin oder her.
Zur Teilnahme am Testverfahren erklärten sich am Sonntag kurzerhand auch Premier Johnson und Finanzminister Rishi Sunak bereit. Beiden hatte das Covid-App die häusliche Quarantäne verordnet, nachdem sie am Freitag mit Gesundheitsminister Sajid Javid über die Einzelheiten der neuen Pflegeversicherung gestritten hatten und Javid später positiv auf Covid getestet worden war.
Dass das Regierungsduo sich der unangenehmen Verpflichtung entziehen wollte, zehn volle Tage zuhause zu bleiben, löste bei der Opposition sowie Angehörigen von Coronatoten aber eine so heftige Empörungswelle aus, dass Johnson und Sunak binnen knapp drei Stunden zurückruderten.