INTERVIEW
«Putins trojanisches Pferd in der EU»: Linke Ikone Daniel Cohn-Bendit warnt vor Marine Le Pen

Der deutsch-französische Publizist erklärt, weshalb Marine Le Pen nicht Präsidentin wird, was ihn an Emmanuel Macron fasziniert und weshalb ihn die Schweizer in ihren Alpentälern langweilen.

Remo Hess, Paris
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Daniel Cohn Bendit ist ein Urgestein der deutschen und französischen Linken.

Daniel Cohn Bendit ist ein Urgestein der deutschen und französischen Linken.

Keystone

Viel Luxus braucht Daniel Cohn-Bendit nicht. Für das Urgestein der europäischen Grünen muss vielmehr die Botschaft stimmen. Und diese, findet der deutsch-französische Publizist, stimmt im Ökohotel im 14. Arrondissement in Paris, weshalb er seit Jahren regelmässig dort absteigt, wenn er in der französischen Hauptstadt zu Gast ist.

Wir treffen den Alt-68er neben Kompostieranlage und Regenwassertank zum Gespräch im Garten.

Wie hoch schätzen Sie die Chance, dass Marine Le Pen am kommenden Wochenende zur französischen Präsidentin gewählt wird?

Daniel Cohn-Bendit: Höchstens zehn Prozent. Sie wird nicht gewinnen.

Was macht Sie da so sicher?

Ja okay, es bleibt immer ein Risiko und Trump wurde auch gewählt, obwohl es niemand erwartet hat. Aber Le Pen als Präsidentin wäre der Bruch mit der ganzen Geschichte Frankreichs nach dem zweiten Weltkrieg, der Aussöhnung mit Deutschland und der europäischen Integration. Das alles wäre mit einem Schlag beendet und das wollen die Franzosen und Französinnen nicht.

Cohn-Bendit spielte eine zentrale Rolle bei den Studentenprotesten in Paris vom Mai 1968. Hier bei einer Pressekonferenz in der Sorbonne am 1. Juni 1968 nach seiner Rückkehr nach Frankreich trotz Ausweisung.

Cohn-Bendit spielte eine zentrale Rolle bei den Studentenprotesten in Paris vom Mai 1968. Hier bei einer Pressekonferenz in der Sorbonne am 1. Juni 1968 nach seiner Rückkehr nach Frankreich trotz Ausweisung.

Bild: Keystone

Alt-68er und deutsch-französischer «Realo»

Daniel Cohn-Bendit (77) hat ein bewegtes Leben hinter sich: Geboren in 1945 in Frankreich als Kind deutscher Emigranten jüdischer Herkunft wurde er 1968 Gallionsfigur der Pariser Studentenproteste. Ab 1970 war er in der «Sponti-Szene» in Frankfurt a.M. aktiv. Zusammen mit seinem Wegbegleiter Joschka Fischer prägte er in den 80er Jahren den «Realo»-Flügel der «Grünen» in Deutschland. Von 1994 bis 2014 war er Mitglied im EU-Parlament, abwechselnd für Deutschland oder für Frankreich. Heute tritt er jeweils Sonntags in einer Debattensendung des französischen Senders «LCI» auf. Er besitzt sowohl die deutsche wie die französische Staatsbürgerschaft.

Angenommen Sie liegen falsch - kann die EU eine Präsidentin Le Pen aushalten? Die USA haben Donald Trump auch überlebt.

Die EU könnte es vielleicht aushalten, aber sie würde über Jahre zurückgeworfen. Auch wenn sie jetzt so tut, als ob sie sich gemässigt hat: Le Pen hängt den gleichen illiberalen Ideen an, wie Viktor Orban in Ungarn und die polnische Regierung. Das ist brandgefährlich. Dazu kommt ihre Vorstellung von der Beziehung zu Russland, die man angesichts des fürchterlichen Kriegs in der Ukraine nur als abartig bezeichnen kann. Le Pen wäre Putins zweites trojanisches Pferd in der EU neben Orban.

Putin-Nähe ist das eine. Der weit verbreitete Euroskeptizismus das andere. Linke und rechte EU-Gegner stellen in Frankreich mittlerweile die Mehrheit. Warum ist das so?

Dass sie die Mehrheit stellen, würde ich nicht sagen. Wer Melenchon gewählt hat, gab ihm seine Stimme nicht wegen seiner EU-Skepsis, sondern weil er den alten linken Traum verspricht, dass eine andere Welt möglich ist. Aber es stimmt: Es gibt in Frankreich eine Überhöhung der nationalen Identität. Es geht um die «Grande Nation» und das Gefühl, dass man eingeengt werde durch die EU, oder genauer: durch Deutschland. Das sind uralte Ressentiments, die zeigen, wie fragil das französische Selbstbewusstsein ist. Daneben gibt es die Kritik, dass die EU «neoliberal» sei, was heute völliger Schwachsinn ist.

Wie meinen Sie das?

Die Zeit der durch Deutschland verordneten Sparpolitik ist vorbei. Spätestens mit dem 750 Milliarden schweren Coronahilfspaket ist die EU auf eine neo-keynesianische Politik eingeschwenkt, wo gemeinsam investiert wird. Das ist etwas, was französische Präsidenten seit langem gefordert haben und zeigt, dass die EU nicht neoliberal ist, sondern Europa vor Bedrohungen schützen kann und bei Krisen auch interveniert.

Interview im Garten: Daniel Cohn-Bendit mit CH Media-Journalist Remo Hess.

Interview im Garten: Daniel Cohn-Bendit mit CH Media-Journalist Remo Hess.

RH

«Ein Europa, das schützt» war das grosse Versprechen Macrons von 2017. Haben Sie sich damals deshalb an seine Seite gestellt?

Ja. Macron hat erkannt, dass man die französische Souveränität nur radikal zusammen mit Europa denken kann. Das ist für mich das Wesentliche. Frankreich kann in der Welt nur bestehen, wenn es eine starke EU gibt. Und ein starkes Europa kann es nur geben, wenn es eine starke deutsch-französische Einheit gibt, um die herum Mehrheiten organisiert werden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Macron aber oft ins Leere laufen lassen. Könnte die Chemie mit Olaf Scholz besser stimmen?

Ich sehe nicht, dass von Olaf Scholz überhaupt irgendeine Chemie ausgeht. Er wird im Moment ja eher von allen Seiten zum Regieren geschubst. Die deutsche Sozialdemokratie wird noch lange an der Katastrophe zu beissen haben, die sie sich mit ihrer Ostpolitik und der CDU eingebrockt hat. Wenn es eine europäische Dynamik gibt, dann wird diese von den Grünen ausgehen, die mit Aussenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck nicht umsonst gerade die beliebtesten Politiker des Landes stellen. Aber auch Olaf Scholz wird von der Realität durchgeschüttelt werden und nicht darum herumkommen, noch viel enger mit Frankreich den Umbau Europas zu gestalten.

Im Zentrum dieses Umbaus wird der Klimaschutz stehen. Um seine Wiederwahl zu sichern, will Macron jetzt das ökologische Programm des Linkspopulisten Melenchon kopieren. Nehmen Sie ihm den «grünen Schwenk» ab?

Ob ich es ihm abnehme oder nicht, ist egal. Er hat es jetzt aber als Angebot formuliert. Das Entscheidende ist, dass im Programm von Le Pen nichts Brauchbares zum Klimawandel steht. Als Grüner und Linker sage ich deshalb: Es ist richtig und notwendig, also lass uns verhandeln.

Freunde und Wegbegleiter: Cohn-Bendit 1987 mit dem späteren Grünen-Aussenminister Joschka Fischer.

Freunde und Wegbegleiter: Cohn-Bendit 1987 mit dem späteren Grünen-Aussenminister Joschka Fischer.

Keystone

In Deutschland würde man jetzt wohl über eine Koalition diskutieren. In Frankreich gibt es so etwas nicht.

Das ist tatsächlich ein Problem. Die Menschen stimmen nicht für Macron, sondern gegen Le Pen. Das hat zur Folge, dass selbst wenn er gewählt wird, noch immer eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung gegen ihn steht. Der Streit um die Altersvorsorge hat exemplarisch gezeigt, dass sich so kein Land reformieren lässt. Es reicht nicht zu sagen, ich habe alles berechnet. Es geht um die Konsensfindung in der Gesellschaft. Macron müsste deshalb sagen: Ich regiere jetzt noch zwei Jahre, um die aktuellen Krisen zu bewältigen. Dann löse ich das Parlament auf, schaffe das Mehrheitswahlrecht ab und lasse unter dem Verhältniswahlrecht neu wählen.

Und warum sollte er das machen?

Damit er als grosser Reformer in Erinnerung bleibt. Und es muss möglich sein, weil man so nicht mehr weitermachen kann. Frankreich muss lernen, anders Politik zu machen.

Mehr so wie Deutschland?

Ja, Frankreich muss in diesem Fall mehr wie Deutschland werden. Ich gelte in französischen Fernsehsendungen schon als der «Germanisierer» Frankreichs. Aber es ist einfach so: Frankreich muss lernen, dass in der Politik nicht das «Entweder-Oder» das Mass aller Dinge ist, sondern die Fähigkeit, Kompromisse zu finden.

Ist das realistisch in einem Land, wo alles auf die Streitdebatte und die Lust am politischen Konflikt ausgelegt ist und Kompromisse als Schwäche gelten?

Ich bin ein Uralt-68er und unser wichtigste Spruch lautet: «Seid realistisch, verlangt das Unmögliche». Es muss einfach etwas geschehen, es kann mit dieser Polarisierung nicht so weitergehen.

Cohn-Bendits Literaturtipp: Einmal Sachbuch, einmal Krimi

Von 1994 bis 2003 moderierte Daniel Cohn-Bendit mit viel Erfolg den «Literaturclub» im Schweizer Fernsehen. Daher die Frage: Was lesen Sie gerade? Die Antwort: Einmal Sachbuch, einmal Krimi. Beide Male geht es im weiteren Sinne um jüdische Identität. In «Bekenntnisse eines Nichtsnutz» erzählt Elie Barnavi, der ehemalige israelische Botschafter in Frankreich und linke Intellektuelle die ereignisreiche Geschichte seiner selbst und  seiner Familie. Die Krimi-Romane des US-Autors Jerome Charyn spielen normalerweise in jüdischen Gangster-Milieus. In «Winterwarnung» wird Ex-Kommissar und Hauptfigur Isaac Sidel aber plötzlich US-Präsident und muss sich mit Intrigen und Verschwörungen herumschlagen.

Leidenschaft Literatur: Cohn-Bendit ist Viel- und Parallelleser. Aktuell die Biografie des israelischen Intellektuellen Elie Barnavie. Gleichzeitig liest er den Krimi «Winter Warnung» des US-Autors Jerome Charyn.

Leidenschaft Literatur: Cohn-Bendit ist Viel- und Parallelleser. Aktuell die Biografie des israelischen Intellektuellen Elie Barnavie. Gleichzeitig liest er den Krimi «Winter Warnung» des US-Autors Jerome Charyn.

RH

Aber ist Macron nicht gerade der Grund für diese Polarisierung, weil er das traditionelle Parteiensystem zerschlagen hat?

Nein, es war schon vorher kaputt. Macron hat das nur erkannt und die richtigen Konsequenzen daraus gezogen. Das Konstrukt des Mehrheitswahlrecht führt sich ad absurdum. Das ist auch exakt das gleiche Problem, das die Amerikaner haben. «Der Gewinner nimmt sie alle» ist eine tödliche Philosophie.

Es sei denn, man findet eine Persönlichkeit, die es schafft, als Landesvater alle einzubinden. Macron fehlt das. Er gilt als abgehoben und selbstgerecht.

Er hat das Syndrom des Klassenbesten. Weil er so oben ausschwingt mit seinen intellektuellen Fähigkeiten, wird er als derjenige wahrgenommen, der immer alles besser weiss. Das ist auch die Gefahr für die grosse Debatte mit Marine Le Pen am Mittwoch. Wenn sie es schafft, ihn festzunageln auf seine Person, seinen Mangel an Einfühlungsvermögen für andere, dann wird es gefährlich.

Sie kennen die Schweiz sehr gut, haben jahrelang den «Literaturclub» moderiert. Wie blicken Sie auf das komplizierte Verhältnis der Schweiz zu Europa?

Ach, die Schweizer. Wie lange haben Sie gebraucht, um UNO-Mitglied zu werden? Ich finde, es muss nicht sein, dass die Schweiz immer 30 oder 40 Jahre hintendrein kommt. Gleich ist es mit Europa. Das langweilt mich, dieses ewige Zuspätkommen. Wir haben es jetzt gesehen mit den Sanktionen. Zuerst wollten Sie abwarten, weil ihre Banken voll mit russischen Milliarden sind, und am Schluss wurden sie doch gezwungen, mitzuziehen. Die Schweizer wollen geregelte, gute Beziehungen mit der EU. Dann müssen Sie halt die Regeln akzeptieren. So viel ist das auch nicht, was die EU hier verlangt.

Was denken Sie ist der Grund für dieses schwierige Beziehung?

Das weiss ich auch nicht. Aber während der Corona-Pandemie habe ich viel nachgedacht, woher die Impfskepsis im deutschsprachigen Alpenraum stammt. Es könnte etwas mit der Kleinräumigkeit in diesen Bergtälern zu tun haben und der Mentalität, dass man auf Ewigkeit alles genauso machen will, wie man es schon immer gemacht hat. Wenn aber die Pandemie kommt, wenn der Klimawandel kommt und ihnen die Gletscher vor der Hütte wegschmelzen, dann kann man das nicht im Kleinen und lokal lösen. Da müssen sie zusammenspannen. Gleich ist es mit den anderen Herausforderungen in Europa. Das geht nur gemeinsam.

Daniel Cohn-Bendit im Jahr 2006 beim Kongress der Europäischen Grünen in Genf.

Daniel Cohn-Bendit im Jahr 2006 beim Kongress der Europäischen Grünen in Genf.

Keystone

Sie sind jetzt 77 Jahre alt. Was haben Sie noch vor? Würden Sie Umweltminister werden, wenn Macron sie fragen würde?

Nein, das hätte ich schon 2017 machen können. Aber es gibt Dinge, die kann man, und andere, die kann man nicht. Ich war liebend gerne EU-Parlamentarier, aber ich kann nicht Minister sein, wie mein Freund Joschka Fischer. Ich habe meine Enkelkinder und meine Fernsehsendungen. Die geben mir genug zu tun. Eventuell schreibe ich noch ein Buch oder mache noch einen Film.