Syrien
Hilferuf aus Ankara: Massen fliehen vor Assad – es droht eine humanitäre Katastrophe

Die Grossoffensive der Assad-Armee löst eine Massenflucht in der Provinz Idlib nahe der türkischen Grenze aus. Es droht eine humanitäre Katastrophe. So hat die die Regierung in Ankara am Dienstag die russischen und iranischen Botschafter einbestellt.

Michael Wrase, Limassol
Drucken
In der bitterarmen Provinz Idlib sind bereits 1,2 Millionen Menschen aus anderen Teilen Syriens untergebracht.

In der bitterarmen Provinz Idlib sind bereits 1,2 Millionen Menschen aus anderen Teilen Syriens untergebracht.

Keystone

Das von Russland und dem Iran gestützte Assad-Regime ist offenbar entschlossen, das gesamte Land militärisch zurückzuerobern. Nach der Schaffung mehrerer Landbrücken in den Irak (und damit auch den Iran) haben syrische Regierungstruppen um die Jahreswende einen Grossangriff auf die von Dschihadisten beherrschte Provinz Idlib gestartet. Die – aus dem Blickwinkel des Regimes – höchst erfolgreiche Offensive hat eine Massenflucht aus mindestens 90 Dörfern und Kleinstädten ausgelöst.

Bis zu 70'000 Menschen sollen nach UN-Erkenntnissen Haus und Hof verlassen haben. Die Suche nach einer Befehlsunterkunft ist extrem schwierig, da in der bitterarmen Provinz Idlib bereits 1,2 Millionen Menschen aus anderen Teilen Syriens untergebracht wurden und die nahe Türkei keine neuen Flüchtlinge aufnehmen will, die Grenzen abgeriegelt hat.

Angesichts der sich abzeichnenden humanitären Katastrophe hatte die Regierung in Ankara am Dienstag die russischen und iranischen Botschafter einbestellt. Moskau und Teheran, verlangte Aussenminister Mevlüt Cavusoglu, müssten die syrische Offensive umgehend stoppen, weil der Angriff in einer von Russland und Iran geschaffenen sogenannten «Deeskalationszone» durchgeführt werde. Anzeichen dafür gibt es bisher nicht. Auf ihrem Vormarsch nach Norden erhält die syrische Armee wahrscheinlich auch russische Luftunterstützung. Der Direktor «Union of Medical Care und Relief Organisations» (UOSSM), Ahmad al-Dbis, warf dem Assad-Regime «systematische Attacken auf Spitäler» in der Region vor. Ohne eine medizinische Versorgung hätte die Bevölkerung keine andere Wahl als die Flucht.

Nutzniesser ist der IS

Damaskus bestreitet die Anschuldigungen. Der Angriff richtete sich gegen das mit al-Kaida verbündete Rebellennetzwerk Hayat Tahrir al-Sham (Befreiungsfront für die Levante), das etwa 80 Prozent der Provinz Idlib kontrolliert und die Schaffung eines sunnitischen Gottesstaates nach dem Vorbild der Taliban anstrebt. Dem Dschihadisten-Bündnis gehören mehr als 150 verschiedene Gruppierungen an. Unter ihnen sind Extremistenverbände aus dem Kaukasus, Zentralasien und China, deren Hauptquartier am Wochenende bei einem Drohnenangriff zerstört wurde.

Nutzniesser der syrischen Offensive in der Provinz Idlib ist paradoxerweise auch der sogenannte «Islamische Staat». Die Terrororganisation übernahm in den letzten Tagen die Kontrolle über mehr als 20 Dörfer in den Provinzen Hama und Idlib, aus denen die Kaida-nahe Levantefront ihre Kämpfer überstürzt abgezogen hatte. Insgesamt kontrolliert der IS in dieser Region nun 40 Ortschaften. Auch am Nordufer des Euphrat kann sich die Terrormiliz noch immer gegen die von den USA gestützten «Demokratischen Kräfte Syriens» behaupten.

Eine «Wiederauferstehung» des IS halten Experten indes für unwahrscheinlich. Zu Terrorüberfällen und Anschlägen sei die Gruppe aber weiterhin in der Lage, weil sie noch immer «aus dubiosen Quellen» mit Geld und Waffen versorgt werde.