Der französische Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon dominiert den Parlamentswahlkampf vor dem ersten Wahlgang am Sonntag. Muss ihn Präsident Macron zu seinem Premier machen?
Wenn noch einer die Revolution ausrufen wird, dann Jean-Luc Mélenchon. «Mut! Aktion! Entschlossenheit!», peitschte er nach der verlorenen Präsidentschaftswahl seine Anhänger auf, die er den «Dritten Stand» nannte – wie das Volk in der französischen Revolution von 1789. «Ihr könnt Macron schlagen!», donnerte der 70-jährige Linksradikale. «Die präsidiale Monarchie ist am Ende!»
Mélenchon will mit seiner linken «Volksunion» (Nupes) die französischen Parlamentswahlen (erster Wahlgang am Sonntag, 12. Juni, zweiter Wahlgang am Sonntag, 19. Juni) gewinnen und verlangt, dass ihn der wiedergewählte Präsident Emmanuel Macron danach zum Premierminister ernennt. Das wäre schon fast ein Bruch mit der Verfassung: Ihr zufolge ist der Staatschef frei, seine Regierung zu ernennen.
Doch Mélenchon will seine Nominierung erzwingen. Er will endlich Chef sein – zumindest Regierungschef, wenn schon nicht Staatschef. Beim Präsidentschaftsrennen im April hatte er den Finaleinzug um ein Stimmenprozent hinter der Rechtspopulistin Marine Le Pen verpasst; Einmal mehr er auf dem undankbaren dritten Platz. Er, der autoritäre, aber kultivierte Volkstribun, der lauteste Meckerer der Nation, der flammende Reden hält und die Massen mitreisst – er glaubt, dass er Besseres verdient hätte als die ewige Opposition. Er träumt von einer Rolle wie seine grossen Vorbilder Fidel Castro oder Hugo Chavez, früher auch Wladimir Putin.
Über ein halbes Jahrhundert ist Mélenchon schon im Politbetrieb. Mit 17 Jahren agierte er in den Studentenunruhen vom Mai 1968. Er neigte den Trotzkisten zu, aber nicht etwa der Hauptströmung, sondern der kleinen, sektiererischen «Organisation communiste internationaliste» (OCI). Dieser elitäre Geheimbund propagierte die reine Lehre und unterwanderte die moderate Linke: Prominente Sozialisten wie der nachmalige Premier Lionel Jospin oder Parteichef Jean-Christophe Cambadélis waren verdeckte OCI-Mitglieder mit Pseudonymen.
Auch Mélenchon trat in die Parti Socialiste ein, ohne seiner linksextremen Vergangenheit auch nur im Ansatz abzuschwören. Er wurde Senator, Minister, doch die lauen Sozialisten konnte er nie ausstehen. 2009 trat er aus und gründete nach dem Vorbild von des Deutschen Oskar Lafontaine eine eigene Linkspartei.
Die ersten Anläufe bei den Präsidentschaftswahlen brachten nichts. Mélenchon hatte den Blues und immer wieder cholerische Anfälle. Als die Finanzermittler einmal an seine Tür klopften, um eine Hausdurchsuchung vorzunehmen, schrie er sie wutentbrannt an: «Die Republik, das bin ich!» - eine unfreiwillige, aber viel sagende Reminiszenz an das monarchische Diktum «L’Etat c’est moi». Dann wurde Mélenchon gegen einen perplexen Flic handgreiflich.
Bei den Präsidentschaftswahlen verlor er zwar, aber nur knapp: mit 22 Stimmenprozent lag er zugleich weit vor der Sozialistin Anne Hidalgo, die auf katastrophale 1,7 Prozent absackte. Jetzt hatte Mélenchon die Sozialisten endlich im Sack: Sie konnten nicht mehr nein sagen, als er für die Parlamentswahlen ein Bündnis der linken Parteien vorschlug. Und natürlich steht diese Volksunion unter seiner Führung.
Jetzt beherrscht der bekennende Marxist endlich die einst so stolzen Mainstream-Sozialisten, die er vor 46 Jahren infiltriert hatte. Die Grünen und die Kommunisten haben sich der «Volksunion» ohne viel Widerspruch angeschlossen. Das im Mai ausgehandelte Programm der Wahlallianz entspricht indessen weitestgehend Mélenchons Programm: Mindestlohn 1500 Euro (derzeit 1303 Euro), Rentenalter 60 (heute 62), Grundeinkommen für Junge von knapp 1000 Euro, Einstellung von 860'000 Beamten, Verstaatlichungen, Preissperre für Grundnahrungsmittel.
Dazu kommen: Atomausstieg, Reichensteuer, Rückzug aus der Nato; Sechste Republik ohne präsidiale Allmacht, EU ohne Stabilitätspakt. Letzteres ist nur logisch: Die vorgesehenen 300 Milliarden Euro an Mehrausgaben würden das französische Defizit binnen kurzem auf zehn Prozent hochschnellen lassen und die EU in Alarm versetzen.
Der Thinktank Sapiens nennt Mélenchons Programm «eine Art Sowjetisierung» der französischen Wirtschaft. Sein radikal-autoritäres Vorgehen könnten ihn einen Wahlsieg kosten, der an sich durchaus möglich schiene: Macron ist unpopulär, der inflationsbedingte Kaufkraftverlust verleiht der Linken Auftrieb.
Doch Mélenchon bleibt unfähig zu Mässigung und Kompromiss. Prominente Sozialisten machen deshalb bei dem linken Schulterschluss unter Mélenchons Ägide nicht mit. Die populäre Präsidentin der Region Occitanie, Carole Delga, meinte zur Begründung, der Chef der Unbeugsamen betreibe seine Politik «ausserhalb der Republik».
Ohne die moderateren Linkswähler kann Mélenchon aber im französischen Mehrheitswahlsystem nicht gewinnen. Viele bedauern dies, da «Méluche» ein Sympathiepotenzial hat und französische Missstände wie etwa den verkapppten Monarchismus anprangert. Zugleich ist er unfähig, über seinen trotzkistischen Schatten zu springen. Am lautesten müsste der grosse Schimpfer über sich selber herziehen: Mélenchons schärfster Gegner ist er selbst.