Der ukrainische Präsident wendet sich mit einer emotionalen Rede ans EU-Parlament und fordert den Beitritt für sein Land. Er erntet minutenlangen Applaus und viel Solidarität. Aber einen Express-Beitritt wird es dann doch nicht geben.
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat sich am Dienstag aus seiner umkämpften Hauptstadt Kiew in einer Videobotschaft ans EU-Parlament in Brüssel gewandt. Es waren emotionale, bewegende sieben Minuten, sodass sogar dem Simultanübersetzer die Stimme stockte. «Wir kämpfen für unsere Rechte, für unsere Freiheit, für unser Leben. Und nun kämpfen wir ums Überleben», sagte Selenski. Er appelliere an die EU, seinem Land den Beitritt zur Europäischen Union zu ermöglichen. Selenski: «Wir geben unser Leben, unsere besten Leben, um gleich zu sein, wie ihr».
Listen: The official Ukrainian translator for the European Parliament appears to hold back tears as President Volodymyr Zelenskyy delivers a speech on the Russian invasion to MEPs. 🇪🇺🇺🇦
— euronews (@euronews) March 1, 2022
Bereits am Vortag hatte er formell das Beitrittsgesuch der Ukraine unterschrieben und nach Brüssel geschickt. Jetzt sagte er: «Wir haben bewiesen, dass wir stark sind, dass wir Europäer sind, dass wir gleich sind, wie ihr. Beweisen sie, dass sie an unserer Seite stehen, Beweisen sie, dass sie uns nicht fallen lassen, dass sie wahre Europäer sind». Dann werde das Leben über den Tod, das Licht über die Dunkelheit siegen, so Selenski.
EU-Ratspräsident Charles Michel verurteilte den Überfall Russlands auf sein Nachbarstaat in scharfen Worten. Es handle sich um nicht weniger als «geopolitischen Terrorismus». Zum Beitrittswunsch erklärte er, dass sich die EU-Staaten, auch wenn es unterschiedliche Meinungen gäbe, sich ihrer Verantwortung nicht entziehen würden und das Gesuch «ernsthaft prüfen». Zuvor forderten in einem Brief neun EU-Staats- und Regierungschefs aus Osteuropa und dem Baltikum den sofortigen Start von Beitrittsverhandlungen. Und auch das EU-Parlament drängte in einer symbolischen Resolution, man möge auf einen Kandidatenstatus der Ukraine hinarbeiten.
Joint letter by Presidents 🇵🇱🇧🇬🇨🇿🇪🇪🇱🇹🇱🇻🇸🇰🇸🇮 in support of Ukraine’s 🇺🇦 swift candidacy to the European Union.https://t.co/XZZ9ktnY7f pic.twitter.com/KiZVO7zR7b
— Poland in the EU (@PLPermRepEU) February 28, 2022
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nannte den ukrainischen Präsidenten und sein Volk eine «wahre Inspiration». Die EU und die Ukraine seien sich «näher als jemals zuvor». Auch wenn es noch «ein langer Weg» sei und man über die nächsten Schritte sprechen müsse, so sagte von der Leyen: «Niemand in diesem Parlament kann daran zweifeln, dass ein Volk, welches so mutig für unsere europäischen Werte einsteht, in unsere europäische Familie gehört».
Tatsächlich ist ein EU-Beitritt ein komplizierter und langwieriger Prozess. Einfach im Handumdrehen die Ukraine zum Vollmitglied erklären, wie es der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba jetzt fordert, ist unmöglich. Mit Serbien und der Türkei zum Beispiel laufen seit Jahren Beitrittsverhandlungen, ohne dass ein Abschluss in greifbare Nähe kommt. Andere wie Albanien und Nordmazedonien haben alle Hausaufgaben gemacht, müssen aber aus politischen Gründen noch auf den Verhandlungsstart warten.
The best decision the EU can make now is to accept Ukraine as a new full-fledged member of the European Union without delay. Historic times require big and historic decisions which can change the flow of events. This step is exactly such a decision.
— Dmytro Kuleba (@DmytroKuleba) March 1, 2022
Das 2014 abgeschlossene Assoziierungsabkommen hat die Ukraine bereits politisch und wirtschaftlich an die EU und den Binnenmarkt herangeführt. Es war die versuchte Beerdigung dieses Abkommens durch die Regierung des prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch, die am Anfang der Maidan-Proteste stand. Auch wenn die Ukraine in den vergangenen Jahren massgebliche Reformen in Angriff genommen hat, so sind die weitverbreitete Korruption und die schwachen demokratischen Strukturen noch immer Hauptstolpersteine für Beitrittsverhandlungen.
Dementsprechend dominiert in der EU die Haltung, wonach es trotz aller Solidarität jetzt für nicht angebracht wäre, die Dinge zu überstürzen. Es sei «keine gute Diskussion», jetzt über einen Express-Beitritt zu sprechen, sagt der niederländische Premierminister Mark Rutte. Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock warnt: «Ein EU-Beitritt ist nichts, was man in einigen Monaten vollzieht». Und auch aus französischen Regierungskreisen heisst es, dass man aufpassen müsse, keine Versprechen abzugeben, die man nachher nicht halten könnte.