Angela Merkel verlässt die grosse Politbühne mit einem Nina-Hagen-Hit. In ihrer wohl letzten grossen Rede setzte sie ein Zeichen gegen Hass. Den Rekord von Helmut Kohl verpasst sie um wenige Tage.
Ein Augenblick für die Geschichtsbücher. Im historischen Bendlerblock im Zentrum Berlins, in dessen Hof 1944 die Widerständler rund um Claus Schenk Graf von Stauffenberg hingerichtet worden sind und heute das Verteidigungsministerium seine Büros hat, ehrte das Bundeswehr-Orchester die abtretende Kanzlerin Angela Merkel mit dem traditionellen Zapfenstreich. «Ich empfinde Dankbarkeit und Demut. Demut vor dem Amt, Dankbarkeit für das Vertrauen», sagte die 67-Jährige in ihrer vermutlich letzten grossen Rede, bevor sie das Zepter definitiv an ihren Nachfolger Olaf Scholz von der SPD überreicht.
Merkel blieb bei ihrem offiziellen politischen Abschied gewohnt nüchtern, emotionale Rührung war bei ihr kaum zu erkennen. Ihrem Nachfolger und der von ihm geführten neuen Bundesregierung wünschte Merkel «eine glückliche Hand und viel Erfolg». Sie rief dazu auf, sich Hass und Hetze entgegenzustellen und stattdessen mit «Fröhlichkeit im Herzen» an die Arbeit zu gehen:
«Es ist diese Fröhlichkeit im Herzen,
die ich unserem Land auch für
die Zukunft wünsche.»
Es war eine typische Merkel-Rede, die unprätentiöse Politikerin hat auch in ihrem letzten grossen Auftritt darauf verzichtet, sich und ihre Erfolge selbst in den Mittelpunkt der Zeremonie zu stellen. Vielmehr dankte sie mehrmals politischen Weggefährten und auch ihrer Familie.
Drei Songs durfte sich Merkel von der Bundeswehr-Musikkapelle wünschen, mindestens zwei davon waren für die Musikerinnen und Musiker eine ziemliche Herausforderung, im Notenarchiv des Bundeswehr-Orchesters jedenfalls fanden sich zu den Stücken keine Noten. So hat sich die in der DDR sozialisierte Merkel für Nina Hagens «Du hast den Farbfilm vergessen» entschieden. Einer der grössten DDR-Hits der späteren «Godmother of Punk» aus dem Jahr 1974. Wohl eine Reminiszenz Merkels an eine Zeit im längst untergegangenen Bauern- und Arbeiterstaat, die sie bis heute prägt.
Mit Hildegard Knefs Klassiker «Für mich solls rote Rosen regnen» und dem Kirchenlied «Grosser Gott, wir loben dich» huldigt Merkel, die ostdeutsche Pfarrerstochter, - vermutlich - auch den Westen der Republik, die christlichen Wurzeln ihrer CDU und von sich selbst. Doch auch bei den feierlich vorgetragenen Liedern kullerten Merkel keine Tränen über die Wangen. Das war bei ihrem Vorgänger Gerhard Schröder anders. Als die Militärmusik das von ihm gewünschte «I did it my Way» von Frank Sinatra anstimmte, vergoss der Genosse vor Rührung - vermutlich auch über sich selbst - einige Tränen.
Der grosse Merkel-Abschied ging an diesem Donnerstag etwas unter. Die Schlagzeilen bestimmen seit Tagen Corona. Noch am Donnerstagnachmittag nahm Merkel an einem Bund-Länder-Gipfel teil, um Massnahmen in der Coronapandemie auf den Weg zu bringen. Ihr designierter Nachfolger Olaf Scholz hat die politische Gangart in den letzten Wochen bereits dominiert.
Ihm gelang in nur zwei Monaten die Bildung einer Regierung mit Grünen und der FDP. Die rasche Regierungsbildung vermiest Merkel einen Rekord. Würde sie bis zum 19. Dezember kommissarisch im Amt bleiben, wäre sie vor «Einheitskanzler» Helmut Kohl die Kanzlerin mit der längsten Amtszeit. Kohl regierte von 1982 bis 1998 insgesamt 5870 Tage. Wird Scholz auch tatsächlich, wie angestrebt, schon nächste Woche als neuer Kanzler vereidigt, fehlen der Physikerin wenige Tage zum alleinigen Rekord. Merkel wird das verkraften, auf solche Statistiken legt die Naturwissenschaftlerin keinen Wert. Wichtiger wird ihr sein, wie ihr politisches Erbe dereinst bewertet werden wird.
Angela Merkels politische Laufbahn in Bildern:
Die politischen Vorzeichen lassen darauf schliessen, dass sich in der Bevölkerung kaum eine lange Merkel-Nostalgie ausbreiten wird. Zu unruhig sind die Zeiten, die öffentliche Aufmerksamkeit gilt der Gegenwart. Corona wütet heftig wie nie zuvor, in der Ostukraine droht Krieg. Merkel wird sich ins Private zurückziehen, kein neues politisches Amt anstreben. Sie wolle eine Reise mit der transsibirischen Eisenbahn unternehmen, verriet die 67-Jährige vor einigen Wochen. Und sie wolle mit etwas Abstand zur Politik herausfinden, «was mich so eigentlich interessiert.»