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Basel
Am Dienstag startete der sogenannte «Autobumserprozess» am Strafjustizzentrum in Muttenz. Von den sechs Angeklagten erschienen nur fünf. Mehrere Versicherungen sehen sich wegen fingierter Unfälle um fast 60'000 Franken geprellt.
«Es muss sich um eine orchestrierte Aktion handeln, plötzlich wird mein Mandant vom Opfer zum Täter.» So steigt der Anwalt eines Angeklagten in sein Plädoyer ein. Tatsächlich kann einem die Geschichte etwas merkwürdig vorkommen. Vor Gericht stehen am Dienstag sechs Angeklagte türkischer Abstammung, davon eine Frau. Einer der Angeklagten erscheint nicht, er habe «alles gesagt» und sei gesundheitlich verhindert. Bekannt ist die Sechsergruppe als «Autobumserbande». Sogar Gerichtspräsident Daniel Schmid nimmt diesen Begriff in den Mund.
Im Zeitraum zwischen dem 1. Dezember 2014 und dem 21. Juni 2017 entrichteten verschiedene Versicherungsgesellschaften insgesamt Zahlungen in der Höhe von 59'698 Franken. So weit, so gut. Das Problem: Die Zahlungen wurden für fingierte Unfälle getätigt, deren Organisation und Ausführung den sechs Angeklagten vorgeworfen werden. Involviert sind die AXA, die Basler Versicherungen, die Zürich Versicherungen und die Allianz. Im Gerichtssaal sind Vertreter der Privatklägerin AXA. Ebenfalls vor Ort ist eine Dolmetscherin, die einen Grossteil des Prozesses übersetzen muss, um Verständigungsprobleme auszuschliessen.
Das Vorstrafenregister ist beim Hauptangeklagten, einem 49-jährigen in Basel wohnhaften Mann, besonders lang. So wurde er im Juni 2018 zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Ausserdem wurde ein Kontakt- und Rayonverbot verhängt, das sicherstellen sollte, dass sich der Angeklagte seiner Ex-Freundin nicht mehr nähern kann. Da er dies aber mutmasslich wieder getan hat, erscheint auch dieser Punkt in der Anklageschrift.
Der Hauptanklagepunkt bezieht sich aber auf die «Autobumserfälle», sieben an der Zahl, zumindest wissen die Versicherungen von deren sieben. «Die Akten kennen wir», initiiert Gerichtspräsident Schmid die Befragungen. In früheren Einvernahmen haben alle Beteiligten ihre Taten abgestritten, niemand konnte sich mehr an fingierte Unfälle erinnern. Umso überraschender kommt das folgende Geständnis. Allen voran gesteht der Hauptangeklagte, an den fingierten Unfällen beteiligt gewesen zu sein. Er bereue dies jeden Tag. Seine Gefolgsleute tun es ihm gleich, einer nach dem anderen. Was irritiert: Der Hauptangeklagte schiebt die Schuld und somit die Tatsache, der «Kopf der Bande» zu sein, auf einen Mitangeklagten. Dieser wiederum reagiert irritiert und besteht darauf, ebenfalls die Wahrheit zu sagen, gesteht seine Mittäterschaft ein, beharrt aber darauf, dass der Hauptangeklagte der Kopf der Bande sei.
1,3 Milliarden Franken betrugen die Schadenzahlungen aus der Motorfahrzeughaftpflichtversicherung der Schweizer Versicherungsgesellschaften im Jahr 2019 insgesamt. Spartenübergreifend schätzt der Schweizerische Versicherungsverband auf Anfrage der bz den Anteil von unrechtmässig ausgezahlten Leistungen auf etwa zehn Prozent, das wären also 130 Millionen Franken. Schaut man sich die Gesamtschadenssumme des hiesigen Falls an, wirkt diese verschwindend klein, ist der Schaden bei einem Totalschaden eines nicht allzu alten Autos doch oft schon gleich hoch.
«Nichtsdestotrotz handelt es sich bei Versicherungsbetrug um Betrug am Kollektiv», betont Roberto Brunazzi, Mediensprecher der Basler Versicherungen AG, gegenüber der bz. Als Versicherung stehe man stets in der Pflicht, das Versicherungskollektiv zu schützen. Es bestehe eine Datengrundlage, die es dem Konzern ermögliche, Auffälligkeiten und Muster in der Schadenabwicklung zu entdecken.
Im Laufe der Verhandlung wird klar: Die beiden verband einst eine Freundschaft, die durch wirre Diskussionen um einen Kredit endete. Der Mitangeklagte wirft dem Hauptangeklagten vor, von ihm bedroht und gar körperlich angegangen worden zu sein, seine Frau unterstreicht dies im Zeugenstand:
«Als wir uns zu einer Aussprache getroffen haben, habe ich extra einen Ort ausgesucht, an dem viele Menschen zugegen sind, weil ich Angst hatte».
Ein weiterer Zeuge sagt exakt das Gegenteil. Das Gespräch sei ruhig und friedlich verlaufen, Drohungen habe es keine gegeben.
Die Autobumserhistorie ins Rollen gebracht hat ein Vorfall im Jahr 2014. Der Hauptangeklagte habe seinen Mitangeklagten und einstigen Freund auf der Strasse «abgeschossen». Was er damit meint: Die beiden hätten sich verabredet und seien beide mit dem Auto unterwegs gewesen, als der Hauptangeklagte seinem Ex-Kumpel in seinem stehenden Auto auffuhr. Dieser trug Verletzungen davon und musste im Spital behandelt werden. Dieser Fall ist dann auch der erste der sieben Unfälle, die in der Anklageschrift beschrieben werden. Die Geburtsstunde der Geschäftsidee sozusagen. Hört man sich aber das Plädoyer der Verteidigerin des Hauptangeklagten an, klingt das ganz anders. Ihr Mandant behauptet, der Mitangeklagte sei vor Jahren mit der Idee auf ihn zugekommen, seine eigene Garage mit Autos zu «füllen» und sie anzuzünden, um kräftig Geld von der Versicherung abzukassieren. Sozusagen der Beweis dafür, dass die Idee des Versicherungsbetrugs von ihm kam. Eine Behauptung, die nicht bewiesen wurde. Klar ist nur: Die Garage brannte nie.
So entwickelt sich der Prozess zu dem, was der Verteidiger des einen Mitangeklagten in seinem Plädoyer festhält: einer Schlammschlacht nach dem Motto alle gegen einen, einer gegen alle. Der Verteidiger weist ausserdem daraufhin, dass drei der Angeklagten verwandt seien.
Zwischen langen Plädoyers und gegenseitigen Schuldzuweisungen von allen Seiten gehen die vier Mitangeklagten ziemlich unter. Einer schläft während der Schlussplädoyers gar ein, die Mitangeklagte weckt ihn sichtlich genervt mit einem Klaps. Klar ist: Der Hauptangeklagte möchte nicht ins Gefängnis, da dies für ihn das «Ende seines Lebens» bedeuten würde. Seine Schwester und Mitangeklagte bricht nach seinem Schlusswort in Tränen aus. Er lebe schon seit bald drei Jahren wie in einem Gefängnis, da er nur noch arbeite, um sich eine «saubere Zukunft» aufzubauen, klagt er. Das Urteil wird am Donnerstagnachmittag verkündet.