Brasilien
Kultur in der Gefahrenzone: Basler zu Gast am Literaturfestival in den Favelas

Slampoet und Rapper Laurin Buser sowie Autorin Michelle Steinbeck traten am «Flup»-Festival in Rio auf – und haben die Realität schnell kennengelernt. Auch weil sie in Stadtvierteln gewohnt haben, in die manche Einwohner Rio de Janeiros aus Sicherheitsgründen selbst noch keinen Fuss gesetzt haben.

Martina Farmbauer, Rio de Janeiro
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«Flup»-Festival
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Tolle Stimmung am Literaturfestival in Rio.
Laurin Buser und Michelle Steinbeck vertreten die Schweiz.
Vor Ort dabei: die Polizei.

«Flup»-Festival

zvg

Als Julio Ludemir und Ecio Salles das «Literaturfestival der Peripherien» vor fünf Jahren gründeten, da spielten sie mit der Abkürzung «Flupp» auf die «UPP» an, wie man die befriedenden Polizeieinheiten in Rio de Janeiro nennt.

Diese «Unidades de Polícia Pacificadora» hatten die Aufgabe, die Dynamik in Rio de Janeiros Favelas zu verändern. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass die Befriedungspolizei in Rio gescheitert ist, was in Europa noch nicht ganz angekommen zu sein scheint.

Jedenfalls war es Michelle Steinbeck und Laurin Buser nicht klar, als sie die Einladung annahmen, die Schweiz an der «Flup» (das zweite «p» ist mittlerweile aus dem Veranstaltungsnamen verschwunden) zu vertreten.

«Flup»-Festival

Schweizer Slammer in Rio de Janeiro

Michelle Steinbeck und Laurin Buser sind nicht die ersten Schweizer, die an diesem Poesie- und Poetry-Slam-Festival teilgenommen haben. 2015 trat schon Gabriel Vetter in Rio auf, 2016 Hazel Brugger. Der Anlass wird unter anderem von swissando, dem Institut Français und dem Goethe-Institut unterstützt.

In der Gefahrenzone

Die Autorin und der Poetry Slammer aus Basel haben die Realität in vollem Ausmass kennen gelernt. Auch, weil sie in der Babilônia und im Vidigal gewohnt haben, Stadtvierteln, in die manche Einwohnerinnen und Einwohner Rio de Janeiros zum Teil aus Sicherheitsgründen, zum Teil aus Vorurteilen heraus selbst noch keinen Fuss gesetzt haben.
«Kids mit Waffen sind ein alltägliches Bild», erzählt Laurin Buser in Rio de Janeiro. «Es war schnell klar, dass eine Favela nach eigenen Regeln funktioniert.»

«Flup»-Veranstalter Julio Ludemir, der selbst in der Babilônia wohnt, hat Michelle Steinbeck und ihm Einblicke dahinter gewährt. «Es ist eine schwierige Zeit in den Favelas, das wurde uns eingeschärft», sagt Laurin Buser. «In der Babilônia sieht man das.»

Tatsächlich ist in der Babilônia, wo die «UPP» Drogenhändler vertreiben und Sozialprojekte bringen sollten, nur mehr ein Häuschen mit einem Polizisten übrig geblieben. Anders im Vidigal, wo die «Flup», in diesem Jahr stattfindet. Während wir sprechen, patrouillieren schwer bewaffnete Polizisten vorbei.

«In den ersten Tagen waren wir sehr gefordert», sagt Laurin Buser. Das ging soweit, dass Michelle Steinbeck und er sich an das Schweizer Konsulat in Rio de Janeiro wandten, um sich dort über die Situation im Vidigal zu erkundigen. Selbst Bewohnerinnen und Bewohner Rios machen sich über die Sicherheit schlau, ehe sie zur «Flup» oder in eine andere Favela gehen. «Wenn man bedenkt, dass wir in dieser Zeit hierherkommen, in der der Drogenkrieg wieder ausbricht, schienen wir doch einer gewissen Gefahr ausgesetzt zu sein.»

Dass das Gespräch mit Michelle Steinbeck und Laurin Buser zunächst zehn Minuten von den äusseren Bedingungen handelt, bevor es um die Literatur geht, zeigt, dass die «Flup» mehr ist als ein Literaturfestival in einer Favela. Sie ist ein politisches Statement.

Die Notwendigkeit des Schreibens

Co-Gründer Ecio Salles nennt es «política amorosa», liebevolle Politik, dass man das Festival in diesem Moment an diesem Ort stattfinden lasse. Denn die Situation der Favelas in Rio ist wieder unsicher, nachdem das Projekt der Befriedungspolizei in Rio gescheitert ist, und die Drogenbanden zurückgekehrt sind – mit voller Macht. Ein solches Festival kann man da sowohl als notwendig als auch als waghalsig betrachten. Auf die Frage, was er, der am «Rio Poetry Slam» teilgenommen hat, von der «Flup» und aus Rio mitnimmt, sagt Laurin Buser: «Die Notwendigkeit des Schreibens.» Der US-Amerikaner Saul Williams, einer der besten und beeindruckendsten Spoken-Word-Poeten, habe gesagt, man müsse schreiben, als ob man eine Pistole im Mund hätte. «Es ist makaber, aber hier entspricht das der Wahrheit. Was ist die eigene Dringlichkeit? Das herauszufinden ist meine Aufgabe.» Was ihm zudem auffiel: «Dass hier fast permanent Musik zu hören ist.»

Michelle Steinbeck hat bei der «Flup» eine Gesprächsrunde über Frauen- und Geschlechterfragen mit dem französischen Queeraktivisten Sam Bourcier und der brasilianischen Feministin Charô Nunes moderiert.

Inspirierende Eindrücke

Zwei Tage vor Beginn des Literaturfestivals stimmte das Abgeordnetenhaus einem Vorschlag zu, der Abtreibungen selbst im Falle einer Vergewaltigung verbieten soll. Tausende Frauen demonstrierten dagegen im Zentrum Rios.

Bei all den Eindrücken hat Steinbeck viel gesammelt und geschrieben. Sie ist derzeit Stipendiatin am «Istituto Svizzero» in Rom, arbeitet an einem Theaterstück. «Und an einem neuen Roman, der jetzt wahrscheinlich ganz viel Rio drin haben wird», sagt Steinbeck.