Teil 1 der neuen bz-Serie «Die Farben dieser Stadt»
Die 1920er-Jahre: Eine Kindheit zwischen Klybeck und Kleinhüningen.
Das Basel meiner Kindheit lag zwischen dem Ausland, dem Fluss und den Toten. Von der Landesgrenze bis zum Gottesacker Horburg, keinen Meter weiter. Hier habe ich mich rumgetrieben, den Rest habe ich später entdeckt. Peu à peu, erst nach meinem zehnten Geburtstag.
Mama und ich wohnten in der Mansarde über Leo und Rosa. Von Rosa später mehr. Sie sagte einmal, sie liebe mich, aber dazu komme ich noch. Ihr Bruder war mein bester Freund, schon immer. Leo war zwar nicht viel älter, und trotzdem lag eine klare Altersgrenze zwischen uns. Er war ein 20er, ich ein 21er. Um den Jahrgang habe ich ihn beneidet. Leo hatte einen Vorsprung, ganz eindeutig. Manchmal sagte er auch Sätze, die ich nicht verstanden habe.
Die Polizisten zum Beispiel, die nannte er «Schläger der Bourgeoisie», und in den Fabriken, da rauchten «Schlote für das Grosskapital».
Was das wohl sein mochte? Das «Gross-kapital»? Die «Bur-schua-sii»? Das habe ich Leo natürlich nicht gefragt. Ich war ja nicht dumm.
Diese Worte und Sätze kamen von den Erwachsenen. Sicher vom Vater, ein hagerer Typ, dem die Hälfte eines Schneidezahns fehlte. Zwei Soldaten hätten ihn festgehalten, ein anderer mit aller Kraft zugeschlagen, prahlte Leo einmal. Den halben Zahn und das Blut habe Papa dem Sauhund dann ins Gesicht gespuckt. «Aber pssst!», zischte mich Leo an, nachdem er mir alles erzählt hatte, was er vom Sommer 1919 erfahren hatte. Kurz vor meiner Geburt war in Basel Generalstreik, fünf Genossen sind gestorben.
Das mit dem Zahn, das durften die in der Fabrik natürlich nicht wissen. Leos Vater arbeitete bei der Ciba, gegenüber dem Friedhof, also genau dort, wo die Welt meiner Kindheit angefangen hat oder geendet, je nach Perspektive. Was hinter den Fabrikmauern und Porten gemacht wurde, das hab ich mir damals in meinem kleinen Kopf zusammengereimt. Alles bei der Ciba beobachtete ich genau: die blauen Uniformen, die Farbspuren an Händen und Gesichtern, der feine Zwirn an den Herren, die im Automobil vorfuhren, die Farbfahnen im Rhein, mal grün, mal rot, mal gelb, und dann war da noch der Duft nach Chemie. Der war immer da, manchmal roch es süsslich, oft stechend.
In unserem Block hatte es viele Kinder. Die Eltern waren Putzfrauen, Färber, Hafenarbeiter, Wäscherinnen, was man halt so machte im Quartier. Sonderbar war eine Bewohnerin im Erdgeschoss, wir nannten sie das Fräulein aus gutem Haus. Sie ist eingezogen, als ich fünf oder sechs war. Das Fräulein aus gutem Haus war dann bei der Ulme aktiv. Zusammen mit dem Arzt und anderen sozial gesinnten Bürgerinnen richteten sie das alte Schlösschen Klybeck her. Dort konnten die Menschen aus dem Quartier hin, singen, reden, basteln. Mama und ich waren regelmässig da, es hatte auch eine Bibliothek; alte, gebrauchte Bücher. Ich erinnere mich an die Reime von Wilhelm Busch. Das Fräulein half uns auch sonst, mit Kleidern und manchmal auch mit Brot, wenn es knapp war. Mir hat sie einmal eine Kostbarkeit geschenkt, eine Orange.
Dieser falschen Hexe traue er nicht über den Weg, meinte Leo, als ich ihm das Geschenk zeigte. «Sei still», sagte ich und steckte die Orange wieder ein. «Kennst sie doch gar nicht, plapperst nur nach.» Schweigend passierten wir das Schlösschen, die Actienmühle, die Spelunken, wo mancher Nachbar seinen Lohn versoffen hat. Bei der Wiese war ich die Stimmung leid, auf der Brücke zog ich das Tempo an und rief: «Fang mi doch, du Hoseloch!» Kurz vor den ersten Häusern Kleinhüningens hatte er mich eingeholt. Mein Freund riss mich nieder. «Hösch», lachte er, «gib sie her, die verdammte Frucht, hösch!» Ich löste mich, trottete weiter, balancierte die Orange kurz auf dem Handrücken, liess sie wieder verschwinden. «Hex, hex», sagte ich und machte eine lange Nase.
Kleinhüningen war unser Eldorado, ein Ort voller Widersprüche und Wunder.
Ich fühlte mich gekränkt, als ich später, inzwischen erwachsen und einigermassen erfolgreich unterwegs, bei Theobald Baerwart ein altes Kindersprüchlein gelesen habe: «Basel isch e scheeni Stadt, Glaihynige-n-isch e Bättelsagg.»
Als ich klein war, gab es dort noch Fischer und Bauern, die Häuschen hatten hohe Giebel, lottrige Schöpfe, an manchem hing ein Fischernetz, an den Ecken Misthaufen und mageres Vieh. Doch diese Welt war am Verschwinden. Nördlich der Wiese kam hin, was sonst nirgends Platz hatte: Lagerhallen, das Hafenbecken, die Gaskokerei, über die eine Zeitschrift schrieb: «Nirgends kommt man deutlicher zum Bewusstsein, dass die Maschine unser Zeitalter beherrscht, wie in diesem neuen Gaswerk.» Die Kohle kam aus dem Saarland und dem Ruhrgebiet nach Basel, sogar aus England. Daraus entzogen sie Energie für die Stadt: Gas, Ammoniak, Steinkohlenteer, Letzteres ein wichtiger Rohstoff für die chemische Industrie, die damals an die Spitze der Basler Wirtschaft getreten ist. Auch das, ohne dass ich es bemerkt hätte. Es war eine stille Wachablösung, die in meinem Viertel schliesslich neue Verhältnisse schuf. Als ich Kind war, lagen da noch die grossen Textilfärbereien von Schetty und Clavel & Lindmeyer, zwanzig Jahre später hatte ihnen die Ciba das Land abgekauft.
Man sagte es nicht laut, aber es war so: Basel war nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr die Stadt der Seide, sondern der Chemie.
Leo und ich hielten bei einer Baustelle an der Neuhausstrasse. An deren Ende lag ein himmeltrauriger Fleck Erde, direkt vor der Grenze Otterbach. Im «Negerdörfli» lebten sie primitiv wie die fremden Völker, die damals im Zolli zu sehen waren. Das sagten auch Leo und ich, die wir nie im Zoo waren, geschweige denn in Afrika, im Orient oder sonst irgendwo. Auf jeden Fall haben wir die dort gemieden.
Mit der kostbaren Orange im Sack liefen Leo und ich an der «Krone» im Dorfzentrum vorbei. Bei einer weiteren Baustelle krallte er sich eine Flasche, die einer mindestens halbvoll hatte stehen lassen. «Nach dem Feierabendbier die Revolution», grinste Leo. Wir schlichen zum Hafenbecken mit dem mächtigen Getreidesilo, zurück über die Wiese, hinunter an das Ufer des Rheins. Dort teilten wir unsere Beute.
Das erste Bier meines Lebens war bitter, die Orange sauer. Verboten schmeckte beides, es tat uns wohl. «Was ist das überhaupt, die Revolution?», frage ich Leo. «Weiss nicht recht», gestand mein Freund. «Sicher etwas Gutes, Papi glaubt fest daran.» Ich zupfte die letzten beiden Schnitze voneinander. Vor unserer Nase floss das Wasser schwer. Damals wusste ich noch nicht, dass Vater in diesem verdammten Fluss sein Leben gelassen hat. Mama sagte es erst, als sie alt war. Die Kündigung habe den lieben Papa geknickt, ohne Arbeit, da sei man doch nichts wert. Vom Vater habe ich den Namen. Er habe mich den Mini-Max genannt, sagte Mama noch. Am ersten Tag des Jahres 1923 haben sie ihn aus dem Rhein gefischt.
bz-Serie: Die Farben dieser Stadt
Zwischen Hafen und Fabrikmauern. Das Kleinhüningen der 1920er
Hintergrund- und Quellenmaterial zur neuen bz-Serie
Gratuliere zu dieser Idee; herrlich 😁! Einmal etwas, das sich die Jungen gar nicht mehr vorstellen können. Wir kennen solches von den Eltern und Grosseltern. Was später folgt, haben viele noch selbst erlebt. Ich freue mich auf die Fortsetzung... übrigens ein Lichtblick zu dem, was man sonst heute zu lesen bekommt .. und erst noch fehlerfrei! 👍🏻
Gratuliere. Die "Alten" haben so einen grossen Schatz an Geschichten, Zusammenhängen, Erfahrung, Erinnerung. Doch es interessiert schlicht niemanden mehr - könnte man meinen, wenn man die Medien konsumiert. Da ist es enorm wichtiger, wenn mal 5 Min. Facebook lahmliegt.... Aber: Wer die Zukunft verstehen will, muss auch die Vergangenheit verstehen - oder so ähnlich.... Deshalb nochmals: Gratulation an die BZ. Da hebt man sich auch von anderen Basler Zeitungen positiv ab.