Echte Schweizer schütteln sich die Hand? Das Coronavirus gibt uns Gelegenheit, unser «Wertesystem» zu überdenken.
Sie erinnern sich: Im November 2015 gaben zwei Therwiler Sekundarschüler ihrer Lehrerin beim Betreten des Klassenzimmers nicht die Hand, mit Verweis auf ihren muslimischen Glauben. Dieser lehnt den zwischengeschlechtlichen Händedruck – je nach Auslegung – als sexuell übergriffig ab.
Die Verweigerung kann als Zeichen des Respekts gedeutet werden. Oder im Gegenteil als Respektlosigkeit. Die Schulleitung entschied pragmatisch und entband die beiden 14 und 15 Jahre alten Brüder von der «Usanz», weil es sich dabei nicht um eine Verletzung der Schulpflicht handle. Mit einem medialen Shitstorm als Folge.
«Ein Handschlag schüttelt die Schweiz» titelte darauf die verblichene «TagesWoche». Und ich klopfe mir selbst auf die Schulter: Erstens, weil es die eigene Schulter ist und meine Hand desinfiziert. Zweitens, weil ich diese Schlagzeile damals in meiner Funktion als Produzent gesetzt hatte und noch heute darüber grinse (Eigenlob aus).
Inhaltlich gab es weniger zu lachen, lancierte der nichterfolgte Schmierkontakt zweier Handflächen doch tatsächlich eine Debatte über Schweizer Werte, zu denen neben Maggi und der Mülltrennung doch tatsächlich der Händedruck zählen soll. «So habe ich mir Integration nicht vorgestellt», meldete sich selbst Bundesrätin Simonetta Sommaruga zu Wort.
Tempi passati, wie die Chinesen zu sagen pflegen. Bei den wöchentlichen Pegelstandsmeldungen des Bundesrates wird der Handschlag fünf Jahre später jedenfalls nicht vermisst. Das Bundesamt für Gesundheit hält im Gegenteil fest: keine Begrüssungsküsschen, keine Umarmungen (ausser für Kleinkinder, weil die ja komplett harmlos sind), kein Händeschütteln. Das Verteidigungsdepartement trug sich sogar mit dem Gedanken, flächendeckend Hygienemasken an die Bevölkerung zu verteilen – Vermummung für alle!
Wie der Wertewandel voranschreitet, wird sich in anderthalb Wochen zeigen, dann öffnen die obligatorischen Schulen wieder ihre Türen. Wenn die wissbegierigen Kinder und Jugendlichen in die Klassenzimmer strömen, wird es bei der Begrüssung tatsächlich um etwas gehen: den Anstand im Abstand. Die Gesundung des Menschenverstandes ist nicht aufzuhalten.