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Die Lockdown-Öffnung am 27. April war ein Fanal. Eine Aufarbeitung dessen aus Anlass des zweiten Schritts. Die Architektin Lilo Münch berichtet über einen Tag beim Coiffeur.
Endlich 27. April: Ab heute dürfen Friseure wieder arbeiten. «Ich kann einen Termin am 7. Mai anbieten.» So lange noch? Unmöglich. Ich ziehe den Sofortfriseur am Kohlenberg in Erwägung. «Ja, wir haben heute (Montag!) schon auf und ja, und ein wenig Geduld müssen Sie schon mitbringen.»
Ich sitze also auf der Kohlenbergtreppe zusammen mit sechs anderen Bedürftigen, alle sind vor mir dran. Eine verhärmt aussehende Frau hat mich gerade mit bösen Worten von einem Plätzchen an der Sonne, geschätzte 1,87 Meter von ihr entfernt, verscheucht. «Abstandsfaschistin», zischte einer dazu. Die Fronten sind schon mal geklärt. Ein Mann wies mich hin auf eine freie Stufe in seiner Nähe, allerdings im Schatten. Ohne rechte Frisur geht mir der Kampfgeist völlig ab, und so gab ich nach. «Wenn ein Coronakranker Selbstmord macht, gilt er dann als Coronatoter?» Auweia, er will reden, aber das wird kein Smalltalk.
Ich zücke mein rosafarbenes Notizbuch. Ein Geschenk. Rosa ist eigentlich nicht meine Farbe. Aber Corona verändert die Toleranzgrenzen. Was sehe ich? Den Kohlenberg runter rollt eine mir unbekannte Variante eines Rollstuhls, hinten zwei Räder, vorne ein Rad, mit einer Frau höheren Alters darin. Das Tram hält, eine Person steigt aus, vier steigen ein. Fünf Stufen unter mir ein Versteinerter mit kreisrunder Glatze inmitten von 1,2 Zentimeter langem Haar. Je kürzer die Haare, desto relevanter ist jeder Millimeter.
Der Gesprächige neben mir steht auf, um Gesellschaft zu suchen. Ein glatzköpfiger Pöstler kommt mit einem dicken Paket im Arm die Treppe hoch, grinst uns breit an. Er hat gut grinsen. Einen Rasierer kann jeder bedienen. Schon wieder ein Tram, zwei steigen aus, fünf steigen ein. Der Personenumschlag nimmt deutlich zu. Man spürt, es ist bald Mittag, dann ist hier der Bär los.
Der Versteinerte vor mir hat sich nun bewegt. Ich entdecke die Socken in seinen Sandalen. Die Verhärmte trinkt wieder einen Schluck aus ihrer Red-Bull-Dose. Jetzt zieht sie ihre rote Jacke aus. Ihr ist wohl zu warm geworden da in der Sonne. Ob ich ihr einen Platztausch anbieten soll? Wieder ein Tram. Keiner steigt ein, keiner steigt aus. Ich liege mit meiner Prognose leicht daneben. Nur die Personendichte auf der Treppe hat sich um drei weitere Wildköpfige erhöht.
Auf mittlerer Höhe sitzt eine Italienerin im ärmellosen Shirt, inzwischen wegen des Fortlaufs der Sonne im Schatten. Sie fröstelt. Eine Blondierte stakst vorbei, spricht in ihr Handy: «Ja, die sitzet alli uf dr Träppe und waarte.» Mir fällt jetzt nichts mehr ein. Die Kopfarbeit wird verdrängt vom Empfinden meines Hinteren, der sich über die Kanten des Buchs beschwert, auf dem er sitzt. Beschwer dich nicht, das ist besser als der nackte schattenkalte Granit.
Wieder ein Tram. Die Fahrgäste verhalten sich völlig unvorhersehbar. Es macht überhaupt keinen Spass mehr, zu zählen. Der Gesprächige wird ungeduldig. «Jä mache die zerscht e Usbildig dört inne?» Der Versteinerte dreht den Kopf in Richtung Schaufenster und späht nach einer Antwort. Jetzt! Eine kommt raus, er geht rein. Noch vier vor mir.
Ein junges Mädchen verlässt das Haus hinter mir. Etwa 18-jährig, weisse Sneakers, schwarze Röhrenjeans, bauchfreies Top, blonder Dutt mit zarter Schleife, Tattoo auf dem Nacken, Handtäschchen am Handgelenk. Sie hüpft die Stufen runter, man kann nicht anders als ihr nachschauen. Fünf Minuten später taucht sie wieder auf mit säuerlichem Gesicht. Und schlägt die Haustüre hinter sich zu. Ich schätze, sie war beim Bankautomaten, und es kommt immer noch kein Geld raus. «Si sitze do e chli ungünschtig. Me muess jo Slalom laufe», mault uns eine Schlechtgelaunte an. Na, die war wohl die letzten Tage nie in einem Park unterwegs.
Zehn Minuten später kommt der Friseur mit Maske im Gesicht vor die Türe. «Es tut mir leid», alle halten den Atem an und rechnen mit: «Es tut mir leid, aber es gibt eine Beschwerde, Warten auf der Treppe ist ab sofort verboten, bitte kommen Sie ein anderes Mal wieder.» Doch er sagt: «Es tut mir leid, aber wir haben das Gesetz nicht gemacht». Er klagt uns sein Leid, Desinfizieren nach jedem Kunden, die Auszubildende darf nicht arbeiten, obwohl sie da ist, deshalb sind sie nur zu dritt, usw. Ich mache ihn darauf aufmerksam, dass es erst weitergehen kann, wenn er wieder reingeht. Zustimmendes Gelächter rundum. Er zeigt Humor und geht wieder rein.
Zwischen der Verhärmten und dem Gesprächigen hat sich inzwischen ein Gespräch entwickelt. Eine andere Dame, sehr zierlich, steht frierend von ihrem Schattenplatz auf und sagt: «Ich friere.» Der Neuzugang schräg hinter mir antwortet: «Es liegt doch gar kein Schnee.» Ausser ihm lacht niemand. Sie geht die Treppe runter in die Sonne und reibt sich die Glieder. Sie tut mir echt leid.
Beim nächsten Aufruf lässt der Gesprächige der Frierenden den Vortritt. Das hat sich ja gelohnt, das Gliederstreichen. Sie tut mir jetzt nicht mehr leid. Jetzt tue ich mir leid. Eine Stunde ist nun um. Fehlt nur, dass ich auch noch Hunger kriege. Eine Frau in rosarotem Mantel kommt an den Fuss der Treppe, schaut sich lächelnd um und fragt: «Wie weiss man, wer die Letzte ist?» Schweigen. «Sie sind die Letzte», sagt die Vorletzte in rosaroter Hose, aber ohne zu lächeln.
Der Gesprächige ist jetzt an der Reihe. Nach drei Minuten stürmt er erbost nach draussen. «Die wollen Name, Adresse und sogar die Telefonnummer! Da mach ich nicht mit! Polizeistaat!» Und weg ist er. Niemand hält ihn auf. Die Verhärmte springt in die Lücke, und drin ist sie.
Jetzt bin ich endlich dran. Der Friseur erklärt wieder das Gesetz und warum er die Daten braucht. Ich glaube ihm alles und gebe ihm alles. Jeder zweite Stuhl ist mit einem rosaroten (schon wieder rosa!) Band abgesperrt. Auf dem übernächsten Stuhl sitzt ein junger Mann mit vielen kleinen Wicklern im Haar. Sieht nach vollem Programm aus. Er muss sehr gelitten haben die letzten Wochen. Ich sitze jetzt schon fünfzehn Minuten hier. Keiner bietet Kaffee an. Ich habe den Service nicht erwartet an diesem Premierentag, fehlen tut er doch. Dass es nichts gibt, hat sicher mit dem Gesetz zu tun.
Der junge Mann hat jetzt Locken. Total süss, das hat sich gelohnt. Jetzt geht er. Und ich sitze jetzt schon seit dreissig Minuten hier, konfrontiert mit dem Maskengesicht im Spiegel. Ich sinniere über die Rolle der Augen im Gesicht und über Kajal und die Schminktricks, die ich mir auf Youtube mal ansehen werde.
Meine Friseurin stellt sich vor, wir sind uns schnell einig, wo was weg soll, sie ist flink und geschickt trotz knisternder Handschuhe. Geredet wird wenig, die Maske hält nicht nur den Atem zurück, sondern auch den Wunsch zu reden. Ich fange an, zu träumen von diesem wunderbaren Beruf, der so schnell Ergebnisse bringt und die Menschen in zehn Minuten glücklich macht (gut, alles in allem waren es jetzt zwei Stunden). Ein paar Gramm verlorene Haare fühlen sich an wie ein paar verlorene Kilos auf den Hüften. Hätte sie mir nicht noch am Ende aus Versehen die Haarreste hinter meine Maske und damit in den Mund geföhnt, ich hätte sie umarmt.
Aber das wäre ja gegen das Gesetz gewesen.
*Lilo Münch ist Architektin und Autorin. Sie lebt in Basel.